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Lena Christ - die Glueckssucherin

Lena Christ - die Glueckssucherin

Titel: Lena Christ - die Glueckssucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunna Wendt
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möglich auszuschöpfen, vertraute auf ihre eigene Erfahrung und konstruierte sich ihre moralischen Prinzipien daraus selbst. Diese stimmten daher nicht unbedingt mit denen der Kirche überein. Keine Skrupel hatte sie beispielsweise, eine Schwangerschaft vorzutäuschen, um Bäuerin zu werden.
    Die Rumplhanni lebte in einer Welt, in der es gang und gäbe war, die Dienstboten sexuell auszubeuten. Bereits ihr Name beinhaltet im bairischen Dialekt eine vulgäre Anspielung: ›Rumpeln‹ bedeutet ›Geschlechtsverkehr haben‹. In der »Männersprache« ist davon die Rede, ›eine zu rumpeln‹ oder ›auf eine zu rumpeln‹. Über das Züchtigungsrecht verfügte der Bauer bis ins 19. Jahrhundert, eine Ohrfeige galt bis ins 20. Jahrhundert als praktikables Mittel, um den Dienstboten zurechtzuweisen. Die Ausnutzung des Abhängigkeitsverhältnisses vollzog sich in allen Bereichen. Dagegen leistete die Rumplhanni auf ihre Weise Widerstand. Sie versuchte, sowohl den Altbauern wie den Jungbauern für ihre Zwecke einzusetzen, und schreckte vor List und Lüge nicht zurück. Ihre Streitbarkeit und ihr Realitätssinn werden etwa in dem Spruch deutlich:
    »Der Franzos streit’t ums Elsass, – der Russ streit’t ums Geld;
    I streit um an Bauernhof – und pfeif auf die ganz Welt!«
    Als Hanni erkennt, dass die Verführungsstrategien, die sie anwendet, um Hofeigentümerin zu werden, nicht funktionieren, entscheidet sie sich für den Umzug in die Stadt. Ihr Hauptziel ist es, sich aus ihrem Stand herauszuarbeiten; wo sie das tut, ist nicht relevant. Hier wird die Analogie zur Lebensgeschichte von Lenas Mutter deutlich.
    Anhand ihrer Figuren, die der Dienstbotenschicht angehören, stellt die Autorin soziale Unterschiede und ihre Konsequenzen immer wieder in den Mittelpunkt. Der Literaturwissenschaftler Walter Schmitz bringt es auf den Punkt: »Sie hat den kleinen Leuten eine Stimme gegeben.« Er weist ausdrücklich auf ihr Verdienst hin, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die man normalerweise nicht anhört: die »Dienstigen«. Sie hatten den Mund zu halten, wenn die »Herrischen« redeten. Lena Christ gehörte zeitweise selbst zu den Dienstigen. Sie hat nicht geschwiegen, sie hat geschrieben. Dabei entwickelte sie einen unvergleichlichen Stil: Dem Pathos der Bauerndichter setzte sie Ironie, Direktheit und ein wissendes Lächeln entgegen.
    Mit dieser Haltung schildert sie auch die wechselseitigen Vorurteile der Stadt- und Landbewohner. In Madam Bäurin werden sie von Rosalies Mutter, der Rechtsrätin Scheuflein, wiedergegeben. Sie empfindet die Bauern als »Wilde« ohne Manieren, ungepflegt und grob. Als »gschertn Spitzbuam« bezeichnet der Spottvers, den die kleine Leni beim Besuch ihres Großvaters in München sang, den Bauern. Mit den Städtern verbinden die Landbewohner eine gewisse Vornehmheit, schon wegen ihrer gewählten Sprechweise, doch eigentlich verachtet man sie, weil sie »mager wie Vogelscheuchen« sind und ihre Lebensweise nicht auf Grundbesitz aufbaut. Man traut ihnen kräftemäßig nichts zu, hält sie für schwächlich. Lohnarbeit lehnt der Bauer ab, geregelte Arbeitszeit ist für ihn ein Zeichen von Faulheit. Dagegen ist der Bauer selbstständig und unabhängig. Die Stadt, in der die technischen Neuerungen entwickelt werden, die traditionelle Arbeitsweisen und Bräuche zerstören, gilt als moralisch verkommen. Jemand, der freiwillig vom Land in die Stadt geht, wird mit Misstrauen und Argwohn betrachtet. Dieser Weg wird als Flucht gewertet, die man antritt, weil man auf dem Land mit dem Gesetz oder mit der Gemeinschaft in Konflikt geraten ist. Der umgekehrte Weg, den Rosalie Scheuflein geht, ist noch ungewöhnlicher. Gemeinhin begeben sich die Städter nur als zahlende Sommerfrischler aufs Land.

    30 Lena Christ mit ihren Töchtern (hinten von links nach rechts) sowie den Leiterinnen und Zöglingen eines Kinderheims, um 1916
    Beim Schreiben stellte Lena Christ Verbindungen her, die im normalen Alltag unmöglich schienen: Sie holte das Land in die Stadt hinein. Das wollte sie auch in ihrem eigenen Leben versuchen, als sie im Oktober 1916 von Lindach nach München zurückkehrte. Sie kam nicht allein, sondern brachte ein kleines Schwein mit, das sie beim Wimmerbauern gekauft hatte. Sie wollte es mästen und später schlachten, damit die Familie genug zu essen hatte. Einmal mehr zeigte sie sich pragmatisch und handlungsfähig. Allerdings hatte sie nicht in ihre Pläne einbezogen, dass die Aufzucht eines Schweins in

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