Lena Christ - die Glueckssucherin
der Stadt bei den anderen Hausbewohnern Protest auslösen würde. Die Familie wohnte damals im zweiten Stock eines Mietshauses in der Pilarstraße. Unter dem Vorplatz vor der Haustür, der überdacht war, gab es noch einen kleinen Lichtschacht, der an den Keller angrenzte. Das sollte der Stall sein. Mit ihrer Reaktion »Dees is a schöne Sauerei mit der Sau!« sprach eine Nachbarin wohl allen Mitbewohnern aus der Seele.
Nach zwei Wochen wurde das Tier in einen Verschlag bei der nahe gelegenen Halle des Nymphenburger Turnvereins gebracht. Mit dieser Lösung war Lena nicht glücklich, es tat ihr leid, dass das Schwein dort ganz allein hauste. Sie beantragte einen Futterbezugsschein, der ihr gewährt wurde. Das ermutigte sie, weitere Schweine dazuzukaufen. Schon bei seinem nächsten Heimaturlaub präsentierte sie ihrem Mann stolz fünf junge Tiere, doch er war nicht so optimistisch, denn es gab nur wenig Platz – die Tiere sollten schließlich gemästet werden –, und der Winter stand vor der Tür. Also zog die Familie ihren Haustieren hinterher: Sie mieteten ein Landhaus mit Garten in der nahen Kuglmüllerstraße, in dem schon Räucherofen und -kammer vorhanden waren, sodass einer erfolgreichen Vorratswirtschaft nichts mehr im Wege stand.
Nach dem Umzug erhielten die Schweine einen Stall im Keller des neuen Zuhauses. Damit war der Grundstock für den Bauernhof in der Stadt geschaffen: Hühner, Enten, Ziegen, ein Hund und eine Gans wurden gekauft und ein Gemüsegarten angelegt. Die Gans war Lenas Lieblingstier. Vielleicht hatte sie gelesen, dass diese in der griechischen Mythologie als heilig galt und ihre Schönheit bewundert wurde. Auch bei den Römern hatten Gänse einen Sonderstatus. Im Tempel der Göttin Juno auf dem Kapitol wurden Gänse gehalten. Ihr Geschrei war es, das die Römer vor den Galliern warnte. Von der »goldnen Gans« und der »Gänsemagd« handeln Märchen der Gebrüder Grimm, »Hans im Glück« nennt eine Weile eine Gans sein eigen.
Die Gans in der Kuglmüllerstraße legte jeden Tag ein Ei, daher wurde ihr ein Orden verliehen. Lena schlang ihr ein goldenes Biedermeierarmband um den Hals und nannte das Schmuckstück »Halsbandorden«. Sie nahm die Gans morgens sogar mit ins Bett, hatte vorsorglich Zeitungen ausgelegt, was gar nicht nötig war, denn die Gans benahm sich vorbildlich – so als wüsste sie, welche Sonderrolle sie in dem eigenartigen städtischen Bauernhof spielte. Dieser bereitete naturgemäß nicht nur Freude, sondern machte viel Arbeit. Allein der Transport des Sägemehls für den Stall oder des »Sautranks«, den sie in einer Gastwirtschaft in der Schwanthalerstraße abholten, beanspruchte den Einsatz der ganzen Familie: Jerusalem zog den Handwagen oder – im Winter – Schlitten, Lena und die Kinder schoben und hielten die Ladung fest.
Einmal erlebten sie eine Überraschung, als sie nach einer dreistündigen Aktion nach Hause kamen. Die fünf Schweine hatten ihren Stall verlassen, die Küche inspiziert und Brot entdeckt, das sie genüsslich verspeisten. Doch das – gute – Leben der Schweine war schon bald vorbei. Da ihr Unterhalt aufwendig und kostspielig war, wurden sie im Sommer geschlachtet. Dazu kam der Wimmerbauer aus Lindach in die Stadt, »und die Waschküche verwandelte sich in ein Schlachthaus. Da mussten alle mit anpacken«, erinnert sich Jerusalem. »Ich half beim Schlachten und Zerlegen, das Mädchen und die ältere Tochter putzten die Därme, die jüngere rührte das Blut, und die Hausfrau bereitete das Wurstbrat. Andern Tags gab es dann Leber- und Blutwürste in Hülle und Fülle, auch einen Schweinsbraten, so dass wir, die Kinder und das Mädchen mit glänzenden Gesichtern dasaßen, bis unter die Haarwurzeln gerötet von dem ungewohnten Essen.« Was nicht gleich gegessen wurde, »kam ins Surfass und von dort in den Rauchfang« und wurde später an Freunde verteilt.
In der Rolle der Bäuerin fühlte sich Lena wohl, sie versorgte die Tiere, molk die Ziegen, gab die Hühnereier zum Sonderpreis an Bekannte ab. Natürlich kam das Schreiben in dieser Zeit zu kurz, denn die Bewirtschaftung des kleinen Hofes war arbeitsaufwendig. Sie währte allerdings nicht lange, denn die Besitzerin des Anwesens in der Kuglmüllerstraße entschloss sich, ihr Haus zu veräußern. Damit war das Ende der ländlichen Idylle besiegelt. Nun mussten noch die Hühner, Enten, Ziegen und die Gans verkauft werden. »Der Abschied von unserer Märchengans glich einer stillen Trauerfeier mit
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