Lenas Tagebuch
bis auf die Grundmauern, aber ein Teil der Wand genau über der Stelle, wo sich der Luftschutzkeller befand, war stehen geblieben, drohte aber jede Minute zusammenzustürzen, und deshalb war es unmöglich, die Verschütteten im Luftschutzkeller zu bergen, man musste die Wand niederreißen. Aber während man damit beschäftigt war, sind viele der Unglücklichen ums Leben gekommen.
19. September
Heute um vier Uhr nachmittags heulten die Sirenen los. Das war der vierte Fliegeralarm. Ich zog mich schnell an und las mein Buch weiter, irgendwie beruhigte ich mich mit dem Gedanken, dass tagsüber keine Bomben abgeworfen würden. Ich bin also nicht sofort hinuntergegangen, habe mich aber angezogen.
Die Flak begann zu schießen. Immer näher, immer näher. Es ist nämlich so, dass hinter unserem Haus auf der Eisbahn ein Militärstützpunkt eingerichtet wurde, wo Flakgeschütze aufgestellt sind. Das ist sehr gefährlich. Und als die Flak von der Eisbahn zu donnern begann, habe ich entschieden, dass es an der Zeit sei zu gehen. Als ich zur Treppe hinausrannte, hörte ich direkt über meinem Kopf, so kam es mir vor, ein fürchterliches Heulen und Pfeifen. Aus den Wohnungen kamen die Menschen gerannt und flitzten nach unten.
»Schnell, schnell, wir werden bombardiert«, rief jemand.
Wir rannten noch schneller. Irgendeine dumpfe Explosion war zu hören, dann noch eine und noch eine. Wieder ein Pfeifen, ein Heulen und dann eine Explosion. Wir zuckten instinktiv zusammen, wir hatten das Gefühl, dass die Decke über uns zusammenbricht.
Endlich waren wir im Luftschutzkeller. Wir zitterten alle. Wir waren gerettet. Aber niemand konnte dieses Glück glauben. Wir hatten tatsächlich Glück gehabt, die Bomben waren nicht auf die Häuser, sondern auf die Straße gefallen.
Am Abend erfuhren wir, welche Folgen das Bombardement hatte: Es wurden Sprengbomben abgeworfen. Drei sind an den »Fünf Ecken« 44 heruntergekommen, drei haben die Fläche zwischen den »Fünf Ecken« bis zum Nachimsonplatz getroffen. Eine Bombe hat ein Haus in der Kolokolnajastraße zerstört und eine andere in der Prawdastraße eingeschlagen. Dank einem glücklichen Zufall ist unser Haus ganz geblieben. Sogar die Fenster sind ganz. Dagegen sind auf beiden Seiten der Straße, wo die Bomben eingeschlagen haben, die Fenster herausgedrückt. Ach ja, ich habe noch vergessen zu erwähnen, dass eine Bombe auf dem Nachimsonplatz eine leere Straßenbahn getroffen hat. Die Fahrgäste waren schon alle ausgestiegen.
Die Bomben haben an vielen Stellen die Straßenbahnlinie zerstört. Die Stromleitungen sind gerissen, weshalb alle Straßenbahnen stehen.
Ja, ein furchtbarer Tag, aber wie viele solcher Tage liegen noch vor uns!
22. September
Ich bin noch am Leben und kann Tagebuch schreiben.
Ich bin jetzt gar nicht mehr davon überzeugt, dass Leningrad nicht aufgegeben wird.
So viel ist geredet worden, so viele große Worte und Reden haben wir vernommen: Kiew und Leningrad sind unbezwingbare Festungen!! … Niemals wird ein Faschist den Fuß in die blühende Hauptstadt der Ukraine setzen, niemals wird er die nördliche Perle unseres Landes – Leningrad – betreten. Doch heute wird im Radio gemeldet: … nach erbitterten mehrtägigen Kämpfen hat unsere Armee Kiew … verlassen! Was bedeutet das? Niemand versteht es.
Wir werden beschossen, wir werden bombardiert.
Gestern um vier Uhr ist Tamara zu mir gekommen, wir sind spazieren gegangen. Als Erstes haben wir uns die zerstörten Häuser angesehen. Das ist ganz in der Nähe. Auf der Bolschaja Moskowskaja neben dem Haus von Wera Nikititschna hat eine Bombe ein Haus getroffen und fast das ganze Gebäude in Schutt und Asche gelegt. Aber die Zerstörung ist von der Straße aus nicht zu sehen, sie befindet sich auf der Hofseite. In den angrenzenden Häusern, unter anderem in dem von Wera Nikititschna, fehlen die Fenster. Auf dem Nachimsonplatz ist der Asphalt an vier Stellen beschädigt, das sind Bombenspuren. Weiter, auf der Seite, wo die Zoohandlung ist, vom Knick der Nachimsonallee an bis zur Seitenstraße gegenüber dem Neuen Jugendtheater, fehlen ebenfalls die Fenster. Aber noch furchtbarer sind die Zerstörungen in der Strelkingasse. Dort sind an einer Stelle die Gebäude auf beiden Seiten der Gasse völlig zerstört. Die Gasse ist mit Trümmern bedeckt. Nirgendwo ein Fenster. Aber am schlimmsten sieht ein Gebäude aus: Eine ganze Ecke ist abgeschnitten, und man sieht alles, Zimmer, Dielen und ihren
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