Lenas Tagebuch
angebrochen. Aber ich bin gerade jetzt stolz darauf, eine Leningraderin zu sein. Auf uns schaut die ganze uns freundlich gesinnte Welt. Auf uns blickt das ganze Land. Tausende und Millionen sowjetischer Bürger sind bereit, uns Leningradern zu Hilfe zu kommen.
Uns stehen noch so viele Schwierigkeiten, Entbehrungen, Kämpfe bevor! Aber der deutsche Stiefel wird unsere Straßen nicht betreten. Erst wenn der letzte Leningrader gestorben ist, wird der Feind seinen Fuß in unsere Stadt setzen. Aber die Macht des Feindes ist nicht unbegrenzt. Unsere Nerven sind angespannt, doch die des Feindes auch. Der Feind wird vor uns entkräftet sein. So muss und so wird es sein.
Wie schön ist es, wenn der Hornist Entwarnung gibt. Denn dieser Trompetenklang und die Internationale um elf Uhr sind die einzige »Musik«, die wir hören. Schon lange gibt es im Radio keine Lieder, keine Musik mehr. Nur Nachrichten, eine Jugendsendung (statt der Chronik) und ab und zu eine Sendung für ältere Schüler. Und immer mehr aufmunternde, eindringliche Texte. Der Sinn bleibt immer gleich: »Vor uns liegen schwere Prüfungen und Opfer, aber der Sieg wird unser sein. Wir sind nicht allein. Hinter uns steht das ganze Land, hinter uns steht die ganze zivilisierte Welt. Alle beobachten uns, alle sind sich unseres Sieges gewiss. Leningrader, nimm alle deine Kräfte zusammen. Lass es nicht zu, dass der ruhmreiche Name unserer Stadt beschmutzt wird.«
14/IX 41
Die Deutschen schießen mit weit tragenden Geschützen auf uns. Gestern war unser Stadtbezirk dem Beschuss ausgesetzt. Unser Haus ist vorerst ganz geblieben, aber direkt in unserer Nähe sind Geschosse explodiert: in der Iwanowskaja, in der Rasjesschaja 16, im Wladimirski-Park, in der Maratstraße, in der Prawdastraße, beim Großen Dramatischen Theater, unweit vom Alexandra-Theater und an anderen Orten. Die Geschosse flogen über unser Haus hinweg oder erreichten es nicht ganz oder machten einen Bogen um uns herum. Aber jede Minute können wir getötet werden. Warum entdecken die Unsrigen diese verdammten Geschütze nicht und zerbomben sie? Vielleicht könnten zwei kleine Bomben à 2000 Kilogramm abgeworfen werden, und 1000 Menschenleben wären gerettet. Denn alle wollen leben. Die, die schon getötet wurden, wollten auch leben. Unter den Toten sind Kinder, Säuglinge, alte und junge Menschen: Junge Frauen, junge Männer, alle wollten so sehr leben. Aber ein Geschoss sucht sich sein Opfer nicht aus, es ist blind, es ist ein Unheil bringendes Metallstück, es verschont niemanden, und man kann ihm nicht entfliehen, die einzige Rettung besteht darin, in einem Keller zu sitzen. Aber für viele ist das unmöglich.
Ich habe mit meinen eigenen Ohren das Heulen einer feindlichen Granate gehört, dann ein Pfeifen, einen lauten Knall, das Krachen eines einstürzenden Hauses und ein dumpfes Echo. Beängstigend! Schrecklich!
Aber dafür gibt es keine Fliegeralarme.
Seltsamerweise gab es am 10. zehn Fliegeralarme, am 11. elf, aber am 12. nur zwei: morgens um zehn Uhr und abends um zehn Uhr, wobei der nächtliche Fliegeralarm noch nicht einmal eine »Vorstellung« zu bieten hatte. Am 13., gestern, gab es nur einen Fliegeralarm, und zwar um eine Zeit, in der niemand damit gerechnet hatte, um drei Uhr nachts.
Wir Leningrader haben uns an diesen schrecklichen drei Tagen, am 8., 9. und 10. September, daran gewöhnt, dass genau gegen elf Uhr die Sirene heulte, alle in den Bunker rannten (denen ihr Leben lieb war) und die Vorstellung begann: Raketen, Flugzeuglärm, das laute Krachen der Sprengbomben, das Pfeifen der Brandbomben. Deshalb gingen am 11. viele schon vorzeitig hinunter, aber der Fliegeralarm dauerte nur eine halbe Stunde. Am 12. begann jedoch ein intensiver Artilleriebeschuss, und daher übernachten viele im Luftschutzkeller, vor allem diejenigen, die im fünften Stock jenes Gebäudeteils wohnen, der der Gegend zugewandt ist, aus der geschossen wird.
Und im Übrigen heißt dieser Kellerraum fälschlicherweise Bombenschutzkeller. Es ist eher ein Granatenschutzkeller, denn Bomben wird er nicht standhalten können. Durch Beobachtungen in diesen drei Tagen der Bombardierung Leningrads wurde erkannt, dass der Luftschutzkeller bei Bombentreffern fast immer entweder komplett durchschlagen oder verschüttet wurde. So war es zum Beispiel in der Krasnoarmeiskajastraße. Eine Bombe mit großer Sprengkraft traf ein sehr massives steinernes neunstöckiges Haus und zerstörte es zum großen Teil
Weitere Kostenlose Bücher