Lenas Tagebuch
dem Kopf und meine Familie habe. Ich werde alle Kräfte dafür hergeben. Zu Hause werde ich ein gleichberechtigtes Familienmitglied sein. Niemand wird es wagen, mich einen Nichtsnutz zu nennen. Ida Issajewna sagt, dass viele junge Frauen Sanitäterinnen seien. Vielleicht werde ich mich mit einer von ihnen anfreunden. Und die Soldaten, die Verletzten – das sind alles Menschen. Und vielleicht sind unter den Verletzten Jungs, Siebzehn-, Achtzehnjährige. Vielleicht gefalle ich jemandem und finde so einen Freund. Ja, ich werde nicht eine Minute darüber nachdenken, ob ich Sanitäterin werden soll oder nicht.
Natürlich werde ich arbeiten gehen und der Familie helfen und werde mein eigenes Geld haben und werde gleichberechtigt sein.
Mich plagen keine Sorgen,
Der Teufel hol das Morgen.
Bald siehst du meine Mühen satt,
Du schöne Stadt, du Heldenstadt!
Liebe, Hilfe zu geben bin ich entschlossen,
Für die, die ihr Blut für uns vergossen.
Wir, Leningrader, werden alles geben,
Um unsre Stadt aus der Gruft zu heben.
Aus London schickt man uns einen brüderlichen Gruß. Sie sagen uns: »Die Themse ist die Schwester der Newa. London und Leningrad sind Brüder im Kampf gegen die faschistischen Tiere.«
Zehn vor vier. Der siebte Alarm ist vorüber. Mein Kopf dröhnt. Ich will schlafen. Der achte Fliegeralarm ist vorüber. Tamara kam mich besuchen. Wir haben uns unterhalten, da war schon wieder Fliegeralarm. Wir gingen in den Luftschutzkeller hinunter, haben uns da ausgiebig unterhalten. Entwarnung. Ich habe Tamara überreden können, noch für ein halbes Stündchen zu mir heraufzukommen. Aber schon als wir die Küche betraten, heulte die Sirene wieder. Wir gingen wieder hinunter, diesmal nicht für lange. Im Luftschutzkeller trafen wir Kapa Lobanowa, haben uns mit ihr unterhalten. Danach ging Tamara wieder. Wie schön ich es mit ihr finde. Wie offen wir uns über alles plaudern können, was uns in den Kopf kommt.
Jetzt ist es Viertel vor acht. Es gab schon zehn Fliegeralarme.
Interessant, Tamara mag keine kleinen Kinder. Ich hingegen liebe sie. Tamara kann es nicht ertragen, wenn sie weinen. Weinen bringt sie auf die Palme. Sie will dann am liebsten handgreiflich werden. Ich hingegen möchte ein weinendes Kind streicheln, damit es Vertrauen zu mir fasst.
12. [?, der Text davor fehlt]
Ich habe mich schon völlig an die Arbeit gewöhnt. Die Kranken mögen mich. Am 8. habe ich zum ersten Mal einen Toten gesehen. An diesem Tag sind auf unserer Station gleich zwei Personen gestorben: eine Frau, die schwanger und am Bauch verwundet war, und ein Mann, der an Gasbrand starb. Ich habe überhaupt keine Angst vor Toten. Sie tun mir nur unendlich leid. Vor allem der Mann, weil ich ihn noch vor Kurzem lebend gesehen habe, er hat wie andere gelächelt, eine Zigarette geraucht, sein Gesicht hat mir sehr gefallen, so ein Junger, Sympathischer. Dann wurde er ins Verbandszimmer gebracht, wo er fünf Stunden lang lag. Er hat alle möglichen Heilbehandlungen bekommen: eine Bluttransfusion, Spritzen u. a. Endlich wurde er auf den Flur hinausgeschoben, und ich erfuhr, dass er in den Operationssaal gebracht werden sollte, wo sein Bein amputiert werden sollte. Er lag da und lächelte, dann wurde er weggebracht. Und als er zurückgebracht wurde, war er nicht wiederzuerkennen, er atmete schwer, stöhnte vor Schmerzen, war blass und fiebrig. So erinnere ich mich an ihn vor seinem Tod. Und dann schickten sie mich rasch in die Apotheke, um Sauerstoff zu holen. Als ich zurückkam, traf ich im Flur den Arzt, und er sagte: »Muchina, Sie brauchen sich nicht zu beeilen, der Sauerstoff wird nicht mehr gebraucht, er ist gestorben.« Ich traute meinen Ohren nicht, rannte auf meine Station, und da lag er schon, aus dem Krankenzimmer hinausgekarrt, das Gesicht mit einem Bettlaken zugedeckt. Furchtbar.
Am 7. gab es den größten Alarm von allen. Von halb acht bis halb zwei. Genau sechs Stunden harrten Tamara und ich im Luftschutzkeller aus. Man stelle sich das nur vor, sechs Stunden.
Und gestern (ich war nicht zu Hause) gab es auch wieder schlimme Fliegeralarme. In unserem Bezirk wurden viele Sprengbomben abgeworfen worden. Viele von ihnen sind nicht explodiert und wurden rechtzeitig entschärft. Man sagt, auf der Jamskaja sind sechs Sprengbomben explodiert.
Morgen (falls ich bis morgen überlebe) sehe ich Tamara.
13. Oktober
Jetzt ist es Viertel nach sieben.
Gerade ist ein Fliegeralarm zu Ende gegangen. Er dauerte nicht lange, war
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