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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Muchina
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Fliegeralarme, das sind Hunderte Menschenleben, Dutzende zerstörte Gebäude, das sind Verschüttungen, Einschusslöcher, Bombentrichter.
    Der letzte, neunte Fliegeralarm war furchtbar. Ich hatte von neun bis elf Dienst in der Hausverwaltung. Da saßen auch Mama und noch eine Ehrenamtliche. Immer wieder erbebte die Erde von den Ex­plo­sionen der Sprengbomben. Und während des gesamten Fliegeralarms hörte man pausenlos Flugzeuglärm, obwohl unsere Flak aus allen Rohren feuerte. Bomben explodierten, wie es schien, ganz in der Nähe. Und jedes Mal rollten wir uns instinktiv zusammen, wir hatten das Gefühl, eine Bombe werde jetzt gleich unser Haus treffen. Aber wir hatten Glück.
    10. September
    Es ist erst elf Uhr, doch es gab schon drei Fliegeralarme. Ich gehe nun jedes Mal in den Luftschutzkeller. Ich ziehe meine Winterklamotten und Gummi­galoschen an und nehme mein kleines Köfferchen mit. Ich werde mich nun bis zum Kriegsende nicht mehr von ihm trennen, ich habe darin ein leeres Heft, Wowas Foto, Geld, zwei Taschentücher, eine Flasche mit Tee, Brot und ebendieses Tagebuch. Innen auf dem Kofferdeckel habe ich meine Telefonnummer und Adresse notiert; sollte mir etwas zustoßen, kann man das bei mir zu Hause melden. Jetzt gerade ist kein Fliegeralarm, aber man hört die Flak schießen.
    Gott, wie sehr wimmelt es in unserer Stadt vor Feinden. So viele Kollaborateure wurden schon gefangengenommen, und dennoch, sobald es einen nächtlichen Luftangriff gibt, verraten vom unfassbaren Feind abgefeuerte Leuchtraketen Ziele für Bombenabwürfe. So haben viele Leute, die gestern während des Luftangriffs am Tor, auf dem Dachboden, auf dem Dach waren, berichtet, dass über dem Platz, wo sich die Bank (an der Fontanka), der Witebsker Bahnhof und andere wichtige Objekte befinden, so lange Leuchtraketen aufstiegen, bis dort Bomben abgeworfen ­wurden.
    Noch ein Moment, wo der Feind dreist wird: Während eines Luftangriffs hat vor der Nase der Dienst­haben­den und des Hauswarts irgendein Typ auf der Straße Petroleum verschüttet und es angezündet. Der Schuft wurde sofort festgenommen, aber das brennende Kerosin konnte man nicht gleich löschen, da es sich über die gesamte gepflasterte Straße ausgebreitet hatte.
    Der vierte Fliegeralarm dauerte ungefähr zwei Stunden. Jetzt ist es 12 Uhr 55 mittags. Gerade ist der achte Fliegeralarm zu Ende gegangen. Jetzt ist es ungefähr fünf. Der neunte Fliegeralarm ist vorbei.
    Jetzt ist es Viertel nach zehn. Mama und Aka schlafen. Ich habe das Gefühl, dass die »Nachtvorstellung« bald wieder losgehen wird. Ich lege mich jetzt auch schlafen. Ich habe mich nicht geirrt. Die Sirene heult. Halb elf. Entwarnung hat es um zwanzig nach zwölf gegeben.
    Halb eins wieder Fliegeralarm. Und erst um Punkt eins wurden unsere Seelen in Ruhe gelassen.
    11. September
    Jetzt ist es halb zehn. Es hat schon zwei Fliegeralarme gegeben. Während des zweiten Fliegeralarms wurden Bomben abgeworfen. Nein, diejenigen irren, die sich einreden, am Tage sei nichts zu befürchten, da am Tage nur Aufklärungsflugzeuge flögen. Aber nein, auch am Tage werden Bomben abgeworfen! Schrecklich!
    Wird nun die Entwarnung Ruhe bringen?! Vor Bomben muss man sich nicht fürchten, aber vor Granaten. Jede Minute kann man von einem Geschoss getötet werden! Auch jetzt gibt es zwar keinen Alarm, aber irgendwo knallt irgendwas.
    Schon den dritten Tag werden die Leute zermürbt. Es gibt keine Ruhe, weder tagsüber noch nachts. Ein Fliegeralarm löst den anderen ab. Gestern gab es zehn Fliegeralarme. Am dritten Tag neun. Insgesamt 21 Fliegeralarme – und das in nur zweieinhalb Tagen. Und wie viele solche Tage liegen noch vor uns?
    Der Arbeiter steht den ganzen Tag an der Werkbank. In den freien Stunden bleibt er auf seinem Posten. Und kaum ist er für gerade mal zwei, drei Stunden zu Hause, beginnt ein Fliegeralarm. Ein Fliegeralarm folgt dem nächsten. Vor lauter Müdigkeit wankend, geht er aufs Dach. Die meisten Leute sind matt wie Fliegen. Solange sie laufen, geht es noch, aber sobald sie sich hinsetzen, fallen ihnen die Augen zu.
    Heute gibt es zumindest eine kleine Freude von der Front. Die Unsrigen haben Wilna vom Feind zurück­erobert.
    Ich bin schon völlig erschöpft. Der fünfte Alarm dauerte eineinviertel Stunden. Nach kaum fünf Minuten ging schon wieder ein Fliegeralarm los. Bereits der sechste. Ich ziehe meinen Mantel nun nicht mehr aus. Es dröhnen die Abschüsse der Fernkampfartillerie.

    Schwere Tage sind

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