Lenke meine Fuesse Herr
Gehen“: Jeder, der von diesem Weg schreibt oder spricht, nennt diesen Weg auch ein spirituelles Erlebnis, einen Weg zu sich selbst. Ich hatte das Gefühl, ich müsste endlich einen ganzen Zugang zu mir finden. Das hieß nicht, den modischen Selbstfindungstrip durchzumachen, sondern zu einem gesunden „Selbst-Bewusstsein“ zu kommen, mir über mich selbst klar zu werden. Dafür brauchte ich Zeit. Zeit mit mir alleine, ohne die Ablenkung durch Medien und Computer — und ohne die Menschen, die mir nahe stehen und die meine Aufmerksamkeit einfordern. Dann wollte ich Menschen kennen lernen und wollte erleben, wie ich auf Menschen wirke. In den letzten zehn Jahren zuvor war ich Menschen meistens als Dozent und Trainer begegnet — jetzt wollte ich wissen, wie ich als Gleicher in einer Gemeinschaft angenommen werde — und wie ich mich einfügen kann, ohne die Autorität des Amtes.
Dann sah ich in dieser Fernwanderung eine Herausforderung an mich selbst. Ich wollte mich zwingen, ganz alleine, aus eigener Kraft, etwas Besonderes, etwas Großes zu Ende zu bringen. Mit meiner beruflichen Situation war ich unzufrieden, war unzufrieden mit mir selbst, und ich sah hier einen Weg, mich selbst wieder annehmen zu können.
Ein guter Teil Abenteuerlust war natürlich auch dabei. Der Reiz der Fremde, die Sehnsucht, das zu entdecken, was hinter dem nächsten Hügelkamm liegt — aber eben nicht isoliert in einer rasenden Blechkiste, sondern eins mit der Natur und dem Land.
Kulturelles Interesse war ebenso ein Motiv — ich wusste, dass mich der Weg zu wichtigen Baudenkmälern führen würde — und diese Art von Kultursuche hatte mir von Kind auf meine Mutter beigebracht.
Sehr wichtig war für mich auch (und wurde im Laufe der Pilgerweges immer wichtiger): Ich hoffte, ich würde mehr Klarheit über meinen Glauben finden, über mein persönliches Verhältnis zu Gott, wenn ich Orte aufsuchte, in denen sein Atem besonders weht. Mein Neues Testament mit den Psalmen, das ich zur Konfirmation bekommen hatte, sollte mich begleiten. Ich wollte lernen, zu leben, was Gott mir gibt: die Gewissheit, in seiner Hand zu sein, nicht alleine zu gehen, behütet und begleitet zu sein, geborgen in seiner Liebe und seinem Schutz.
Diese Beweggründe schrieb ich — fast wörtlich, wie sie hier stehen — mit dem Bekenntnis zu meiner Konfession dem katholischen Pfarrer meines Wohnorts, Pfarrer Danner, den ich gebeten hatte, mir am Abmarschtag meinen Pilgerpass zu stempeln und der mich gefragt hatte, wie ich darauf käme, den Jakobsweg zu gehen. Einige Tage, nachdem ich ihm das Blatt in den Briefkasten gesteckt hatte, rief er mich an und bestellte mich für den Morgen meines geplanten Abmarsches in die Kirche.
Ich habe dann unterwegs oft nachgedacht, weshalb man so viele evangelische Christen — auch Theologen — auf dem Jakobsweg trifft. Katholiken, die sich darüber wunderten, haben mich danach gefragt.
Ein evangelischer Christ geht sicher nicht auf den Jakobsweg, um sich „Verdienst“ zu erwerben. Das widerspricht auch krass der Aussage von Luther, der dem Pilgern jede Form von Verdienst um die eigene Seligkeit (oder die Anderer) abspricht. Dennoch ist der spirituelle Aspekt des Pilgerns auch für einen Nichtkatholiken attraktiv. Ich glaube zu ahnen, warum:
Seit Luther ist die Religion im Protestantismus zunehmend „verkopft“. Vergleiche ich eine katholische Messe mit dem Gottesdienst in der evangelischen Kirche, steht dort das Mysterium der Eucharistie im Mittelpunkt und hier die Predigt, die Auslegung der Bibel. Das Mysterienhafte, das Fühlbare, das Weihevolle der Messgewänder, des Weihrauchs und des andächtigen Schweigens während der Wandlung, das Meditative, das im ständigen Wiederholen gleicher Gebete beispielsweise beim Rosenkranz liegt — das fehlt im Protestantismus weitgehend. Doch in unserer kalten, harten und nüchternen Zeit sehnen sich die Menschen nach solchen Erlebnissen und suchen sie — auch auf dem Jakobsweg. Mir ist inzwischen klar geworden, dass auch dies ein Grund für mich war, den Weg nach Santiago unter die Füße zu nehmen.
Fast zwei Jahre hatte ich geplant und mich vorbereitet. Am 3. Mai 2005 war es endlich so weit: Hier setzt mein Pilgertagebuch ein.
Nach meiner Rückkehr habe ich dem Reporter der „Schwabmünchner Zeitung“, der mich interviewte, gesagt: „Dieser Weg war für mich auch ein Weg zu Gott!“ Ich glaube, das ist auf den folgenden Seiten zu spüren.
Spanische Fassung
Guía mis pasos
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