Lenobias Versprechen: Eine House of Night Story (German Edition)
Dich hat er einfach mitgenommen und deiner Familie geraubt, und ich bin seine Tochter!«
»Seine illegitime Tochter«, berichtigte Elizabeth. »Und nur eine von vielen – wenn auch bei weitem die Schönste. Ebenso schön wie seine eheliche Tochter, die arme tote Cécile.«
Lenobia wandte den Blick ab. Es war eine unangenehme Tatsache, dass sie und ihre Halbschwester sich derart ähnelten – so sehr, dass immer mehr geflüstert und getuschelt wurde, seit die beiden Mädchen zur Frau erblüht waren. Im Verlauf der letzten beiden Jahre hatte Lenobia gelernt, dass es besser war, ihre Schwester und den Rest der fürstlichen Familie zu meiden, da diese schon an ihrem bloßen Anblick Anstoß zu nehmen schienen. Lieber flüchtete sie sich in die Stallungen – einen Ort, den die Herzogin, Cécile und ihre drei Brüder kaum je aufsuchten. Ihr flog der Gedanke durch den Kopf, nun da die Schwester tot war, die ihr so ähnlich sah und sie doch verleugnete, ihr Leben entweder um einiges leichter werden oder die finsteren Blicke der Herzogin und ihrer Söhne sich verschlimmern würden.
»Es tut mir leid, dass Cécile tot ist«, sagte sie laut, um ihre wirren Gedanken zu ordnen.
»Ich hätte ihr niemals Übles gewünscht, aber wenn es ihr bestimmt war zu sterben, so bin ich dankbar, dass es gerade jetzt, am heutigen Tage, geschehen ist.« Elizabeth hob das Kinn ihrer Tochter an und zwang sie, ihr in die Augen zu sehen. »Céciles Tod wird dir ein Leben ermöglichen.«
»Ein Leben? Mir? Aber ich habe doch schon eines.«
»Ja, das Leben einer unehelichen Dienstmagd in einem Haushalt, dem es missfällt, dass der Herr seinen Samen wahllos verstreut und sich dann an den Früchten seiner Schandtaten ergötzt, als müsste er sich wieder und wieder seiner Männlichkeit versichern. Nicht das Leben, das ich mir für mein einziges Kind wünsche.«
»Aber ich verstehe –«
»Komm, dann verstehst du schon.« Ihre Mutter nahm sie wieder an der Hand und zog sie den Flur entlang bis zu einer Tür in der Nähe des Hinterausgangs. Elizabeth öffnete sie und führte Lenobia in eine kleine Kammer, in die kaum Licht drang. Zielstrebig ging sie zu einem großen Korb, der aussah wie diejenigen, in denen benutzte Bettwäsche zur Wäscherei gebracht wurde. Tatsächlich lag zuoberst ein Leintuch darin. Sie zog es heraus. Darunter lag ein Kleid, das selbst in dem schwachen Licht blau, cremefarben und grau schimmerte.
Sprachlos sah Lenobia zu, wie ihre Mutter das Kleid und die teuren Unterkleider aus dem Korb nahm, sie ausschüttelte, die Falten glattstrich und die Flusen von den zierlichen Samtschuhen bürstete. Dann sah ihre Mutter sie an. »Beeile dich. Wenn das hier gelingen soll, müssen wir schnell sein.«
»Mutter? Ich –«
»Du wirst jetzt diese Kleider anlegen und mit ihnen eine neue Identität. Heute wirst du zu Cécile Marsan de la Tour d’Auvergne werden, der legitimen Tochter des Herzogs von Bouillon.«
Lenobia fragte sich, ob ihre Mutter verrückt geworden war. »Mutter, aber alle wissen doch, dass Cécile tot ist.«
»Nein, mein Kind. Nur hier im Château de Navarre ist das bekannt. Aber in der Kutsche, die Cécile noch zur Stunde nach Le Havre bringen wird, und auf dem Schiff, das dort auf sie wartet, weiß niemand etwas von ihrem Ableben. Und sie werden auch nie etwas davon erfahren, denn eine gewisse Cécile wird diese Kutsche nehmen und das Schiff besteigen, das sie in die Neue Welt bringen wird, wo in Nouvelle-Orléans ein neues Leben als legitime Tochter eines französischen Herzogs und ein Ehemann auf sie warten.«
»Das kann ich nicht!«
Ihre Mutter ließ das Kleid fallen, packte ihre Tochter an beiden Händen und drückte diese so fest, dass Lenobia zusammengezuckt wäre, wäre sie nicht so fassungslos gewesen. »Du musst! Weißt du, was dich hier erwartet? Du wirst bald sechzehn Jahre alt. Seit zwei Sommern bist du eine Frau. Du versteckst dich in den Ställen, in der Küche – aber du wirst dich nicht für immer verstecken können. Ich habe gesehen, wie de Beaumont dich vor einem Monat angesehen hat, und dann wieder letzte Woche.« Ihre Mutter schüttelte den Kopf. Erschüttert sah Lenobia, dass sie mit den Tränen kämpfte. »Wir haben zwar nicht darüber gesprochen, aber gewiss ahnst du, warum wir seit einigen Wochen nicht mehr in der Messe in Évreux waren und dass es nicht daran gelegen hat, dass mich meine zahlreichen Pflichten ermüdet hätten.«
»Ich habe mich das auch gefragt … aber ich wollte
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