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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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so laut ab, daß es wie ein Startzeichen klang. Am liebsten wäre ich hinter Dorothea hergelaufen, um sie zurückzuholen, aber das stand mir nicht zu, andere hatten mehr Recht als ich, selbst Guntram Glaser, der nur betreten vor sich hinstarrte. Dann ging Ina zum Chef und nahm seinen Arm. Komm, sagte sie, bitte komm, wir holen sie gemeinsam zurück. Ohne ihn loszulassen, angelte sie sein Glas und gab es ihm und sagte: So können wir das neue Jahr doch nicht anfangen. Der Chef trank einen Schluck. Er sagte: Geh man, du schaffst es allein, Dotti hört auf dich. Sie wartet doch, daß du kommst, sagte Ina, ein Wort der Entschuldigung von dir, und alles ist vergessen. Der Chef streifte Inas Hand ab, er lächelte bitter und fragte ruhig: Wofür, wofür soll ich mich entschuldigen? Vielleicht dafür, daß ich mich nicht freuen kann? Und lauter sagte er: Eine Überraschung, diesmal zum neuen Jahr; in der letzten Zeit verging keine Woche ohne eine Überraschung, allmählich, denk ich, sollten wir uns mal an das gewöhnen, was wir haben.
    Du übersiehst etwas, sagte Ina, und sie sagte auch: Du bist ungerecht, denn Mami tut es doch nicht für sich, dir will sie eine Freude machen, dir. Wie soll sich einer freuen am Überflüssigen, fragte der Chef leise, fast für sich, und nach einem kurzen Schluck sagte er: Damit wir uns verstehen, Ina, ich hab nichts gegen eine Überraschung, aber ein Ding muß doch einen Nutzen haben, eine kleine Notwendigkeit, wir können doch nicht wahllos erwerben und anhäufen, was uns vorübergehend gefällt. Darauf wollte Ina nicht mehr antworten, sie preßte ihre Hände zusammen, sie schloß die Augen, und unvermutet drehte sie sich um und ging hinaus; wiedergekommen ist sie nicht, solange ich da war nicht.
    Trauriger war ich selten als in jener Nacht, ich ging nicht gleich zu mir, ich ging durch die verschneiten Quartiere, sammelte die zerfetzten Pappreste von Schwärmern und Raketen ein, stapfte bis zum Buckel des Findlings hinauf, von dem ich alles übersehen konnte. Massig und erleuchtet lag die Festung da, die Lichter jedoch hatten keinen ruhigen Schein, sie flackerten und zuckten, und gemeinsam mit dem Licht der Sterne gaben sie dem Schnee eine sanfte Bläue. Ich stand noch nicht lange, da flammte es im Zimmer des Chefs auf, seine Silhouette war nicht zu erkennen, aber ich wußte, daß er die andern verlassen hatte, wußte auch, daß er nicht mehr zu Dorothea gegangen war. Am liebsten wäre ich heimlich zurückgegangen in die Festung, einfach, um in ihrer Nähe zu sein und, da ich sie schon nicht selbst zusammenbringen konnte, darauf zu warten, daß es Ina oder sogar Guntram Glaser gelang. Alles, alles hätte ich gemacht, wenn sie nur zusammengekommen wären. Die Lichter erloschen nicht, ich stapfte durch den Schnee zu den alten Kiefern, in denen es leise knackte, ich nahm einen schweren Ast auf und zog ihn hinter mir her, so daß meine Spuren beinahe verwischt wurden, fast spurlos streifte ich zur Mauer hinüber und durch die Senke und in weitem Abstand um die Festung herum, und dabei dachte ich an Ina und versuchte, ihr mit meinen Wünschen zu helfen.
    Als die Eingangstür sich für einen Augenblick öffnete, als ein Schatten in die Nacht hinausschlüpfte, glaubte ich, daß es Ina sei; sofort ließ ich den Ast los und folgte der Gestalt, die sich in der Deckung der erstarrten Rhododendren hielt und schnell über das helle Wegstück zu kommen suchte, erst im Schutz der Thujahecke verharrte sie. Da hatte ich schon erkannt, daß es Magda war, ich rief sie nicht an, ich behielt sie im Auge und ließ sie weiterhuschen, bis zu meiner Tür, an der sie zunächst lauschte, bevor sie klopfte. Sie hat sich ganz schön erschreckt, als ich plötzlich hinter ihr stand, es hat nicht viel gefehlt, und sie wäre wieder gegangen, so verärgert war sie, und kaum waren wir drin bei mir, da mußte ich ihr versprechen, sie nie mehr zu erschrecken. Zur Strafe setzte sie die Tüte, die sie unter ihrem Mantel verborgen hatte, nur achtlos und ohne ein Wort auf den Tisch, und dann wartete sie mißmutig, bis ich das Rollo heruntergezogen und im Ofen gestochert und nachgelegt hatte, und sagte nur: Wenn’s dir schon nicht einfällt – ich wünsch dir ein gutes neues Jahr.
    Nachdem wir uns versöhnt hatten, aßen wir gemeinsam von dem Schmalzgebackenen, das sie mitgebracht hatte. Magda las ein wenig in meinen Handlinien, konnte aber – wie üblich – nichts voraussagen, weil bei mir ein Planetenberg fehlt und ein

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