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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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überreichen und dann die Tür hinter Bruno zuwerfen; aber vorher werde ich noch einmal mit dem Chef sprechen, mit ihm, dem ich alles verdanke, der mich einmal seinen einzigen Freund genannt hat. Ich werde ihn bitten, mich bei sich zu behalten, ich werde ihm bringen, was in meinen Verstecken liegt, er braucht mich, er wird ein Einsehen haben mit mir. Hast du verstanden, Bruno? In der Festung, an einem der nächsten Abende. Ja, sage ich und frage: Muß ich nun fort? Wieder tauschen sie einen Blick, Joachim sieht mich verwundert an, nicht anders, als hätte ich etwas Verbotenes gefragt. Davon war keine Rede, Bruno, sagt er und schüttelt nicht den Kopf über mich; er nickt auffordernd Max zu, der ihm bereitwillig folgt; sie haben einander viel zu sagen.
    Welch ein Kuddelmuddel in meinem Kopf, ich muß die Kirschkerne aufschlagen, eine Handvoll Bitternis, die Kerne werden Ruhe bringen, Klarheit, ich muß einen Plan machen, und wenn sie mich rufen, muß der Plan fertig sein. Nein, nicht mit wandernden Handwerkern gehen, nicht in die Stadt, am liebsten ans Meer oder dorthin, wo sie Wälder pflanzen, Strandkiefern, vielleicht auf einer Landzunge. Das gelbe Floß. Die Kommandos, die Schüsse, die Schreie. Das Getrappel. Sie haben den Chef entmündigt. Die Soldaten stürmen den Kommandohügel, sie stürmen das Schiffsdeck, sie stürzen sich in die Senke, springen mit Waffen und Gepäck ins Wasser; das Sammeln nach dem Sturm, die kleinen Fontänen beim Eintauchen.
    Vielleicht will er auch nur fortgehen, und dann werde ich ihn begleiten, einfach hinterhergehen. Hätte ich bloß noch die Okarina, die ich unter den Kuschelfichten fand, auf dem alten Biwakplatz, sie war ganz dreckig und verklebt, doch nachdem ich sie in Seifenwasser gewaschen hatte, gab sie wieder Töne. Einmal hat der Chef gesagt: Wer diese Töne hört, möchte ihnen immer hinterhergehen, üb nur weiter, Bruno. Und er hat auch gesagt: Wenn du gut genug spielst, werden dir alle hier folgen, sogar die Buchen und Ulmen, all unsere Quartiere.
    Aber es bleibt auch noch der Platz, den Inas Mann sich wählte, als er keinen Ausweg mehr fand: er, der zu seiner Zeit hier alles verdrängte und übernahm und jedem überlegen war, nur nicht dem Chef, Guntram Glaser ging einfach auf die Schienen hinab und legte sich dort hin und wartete auf den Nachtzug nach Schleswig.
    Bald, Bruno, bald werden sie dich rufen. Die Mauer muß sauber bleiben. Wer die Schalen der Kirschkerne findet, wird bestimmt denken, daß hier ein Mäusedepot ist.

Der Versandschuppen, hier, wo jetzt die Packhalle ist, stand früher unser Versandschuppen, ich war gar nicht dabei, als er abgerissen wurde – hochgezogen jedenfalls haben wir ihn für unsern ersten Tag der offenen Tür, in einem frühen Herbst. Ich wußte damals nicht, was das ist, ein Tag der offenen Tür, es war ein Einfall des Chefs, er versprach sich etwas davon in jener Zeit, in der Dorothea ihm immer etwas vorzuklagen hatte, sobald wir in unsern Kammern waren und sie unten allein saßen bei trübem Licht. Sie rechnete ihm die gewachsenen Schulden vor, nicht vorwurfsvoll, sondern nur besorgt, sie erzählte ihm von ihren Enttäuschungen mit einigen Hollenhusenern, die ihr empfohlen hatten, doch wieder dorthin zurückzugehen, woher sie gekommen war – und das nur, weil Dorothea beim Kaufmann von den vielen Blaubeeren und Pilzen erzählt hatte, die es in Rominten gab; auch über Zurücksetzungen auf dem Gemeindeamt klagte sie ihm etwas vor und darüber, daß es auf dem großen Erlenhof keine Eier und keine Milch mehr für uns zu kaufen gab. Die behandeln uns wie Fremde, sagte Dorothea. Der Chef, der abends oft noch in seinem Quartierbuch schrieb oder die selbstgemachte Kartei durchging, in die er unsere ersten mageren Verkäufe eintrug, hatte darauf nicht allzuviel zu sagen, vielleicht, weil er so müde und erschöpft war, er sagte immer nur: Wir müssen da durch, Dotti, oder: Wir geben nicht auf, und um sie zu trösten, sagte er auch: Hör nicht auf ihr Gerede, Dotti, eines Tages werden sie dich zuerst grüßen. Einmal hat er sie ganz ruhig gefragt, ob er denn alles hinschmeißen und mit ihr und den andern fortziehen soll, da habe ich einen solchen Schreck bekommen, daß ich auf mein Lager zurückrutschte und mir die Ohren zuhielt, aus Angst vor Dorotheas Antwort. Sie war wohl überzeugt davon, daß das Land uns enttäuschen würde und daß sich früher oder später herausstellen mußte, daß alles umsonst gewesen war, alle Entwürfe und

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