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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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und vor uns aufführte, versäumte sie nicht, immer wieder mit ihrem Blick den Chef zu suchen, sie suchte ihn, musterte ihn nachdenklich, auch besorgt; einmal rupfte sie Kräuter aus ihrem Strauß am Strickgürtel und warf sie ihm zu, einmal setzte sie die Spitze des Knotenstocks gegen seine Brust und murmelte: Borretsch, der macht allen Mut,/Basilikum gibt Sprache wieder,/Majoran tut jedem gut,/Nieswurz weckt vergeßne Lieder. Das sagte sie, und dabei hob sie das Gesicht, und mir entging nicht, daß sie ihm zublinzelte und gleich darauf drohte, gerade so, als erwarte sie nun die Befolgung der Ratschläge, die ihr Zuspruch enthielt.
    Auf einmal hörte ich Inas Stimme, sie rief etwas Ermunterndes, trieb zur Eile an, und in ihrem Schlepptau erkannte ich ein paar ihrer Mitschüler, dieser Rolf war dabei und Elma und Dieter, sie stellten sich gleich zu uns, mindestens acht Besucher, sie verschränkten mäßig interessiert ihre Arme und bewerteten die Rezepte der Kräuterhexe, die sie einem unerwartet erschienenen Schwesternpaar gab, launige Rezepte gegen Schnecken und Blattläuse, auch gegen Maulwürfe, deren Gänge, wie sie riet, man mit Karbid verstopfen sollte. Da fragte, unter Gelächter, einer von Inas Mitschülern an, ob es auch etwas gegen schlechtes Gedächtnis gibt, zum Beispiel für Geschichtszahlen, worauf die Kräuterhexe zu brabbeln anfing, sie kramte wohl in ihrem Gedächtnis, ging die Bücher ihrer gehüteten Erfahrung durch, und nach einer Weile hob sie triumphierend den Stock gegen den Fragesteller und sagte mit Entschiedenheit: Turner lehrte fünfzehnhundert,/was uns heute noch verwundert:/Lavendel, eingenäht in Mützen,/erspart dem Geist das große Schwitzen. Man dankte ihr mit vergnügtem Beifall, da winkte sie ab und fügte hinzu: Zehrkraut und Rosmarin/lassen das Gedächtnis blühn,/Minze nachts unter dem Kopf/halfen schon dem ärmsten Tropf.
    Am liebsten wäre ich bei ihr geblieben, nur, um ihr zuzuhören und mir zu merken, was sie den Fragestellern antwortete und was die gutgelaunt aufnahmen, ich hätte so gern alles auswendig gelernt, aber mitten im Zuhören stieß mich der Chef an und deutete den Hauptweg hinab, wo Fräulein Ratzum ging, meine ehemalige Lehrerin, und ein Mann in grüner Uniform mit einem tolpatschigen Jungen an der Hand. Los, Bruno, sagte der Chef, nun mußt du deinen Platz einnehmen; und ich nahm mein Gerät und flitzte zum einstigen Kommandohügel, wo ich eine Tischplatte aufgebockt hatte, auf der schon alles lag, was ich brauchte, Reiser und Unterlagen und Bast zum Verbinden – die Schnellverschlüsse aus Gummi, die kannten wir damals noch nicht.
    Schön aufgereiht lag das Veredelungsgerät, und zuerst blieb Fräulein Ratzum vor meiner Tischplatte stehen, sie gab mir freundlich die Hand und fragte, was »unser Bruno« zu bieten habe, und bevor ich noch antworten konnte, trat auch der Mann in der grünen Uniform heran, das heißt, er wurde von dem tolpatschigen Jungen herangezogen, einem schwerköpfigen Jungen mit wulstigen Lippen.
    Ich wollte mit einer einfachen Okulation beginnen, zeigte gerade, wie man einen sauberen T-Schnitt anbringt und die Rindenflügel behutsam öffnet, da rief Lauritzen: Hierher, Niels, der Schwachkopf will uns was beibringen, und sie schoben sich an meinen Tisch, und ihre Nähe reichte schon aus, daß ich zu zittern anfing, gleich, als ich das Edelauge abheben wollte. Lauritzens Sohn nickte mir zu und gab mir so ein beschwichtigendes Zeichen, er wollte wohl, daß ich die Worte des Alten, der mir ungeduldig und fordernd auf die Finger sah, nicht allzu ernst nehmen sollte, doch da der Alte nicht aufhörte, mich Schwachkopf oder Döskopp zu nennen – nu mok man tau, Döskopp –, wurde ich immer zittriger, verletzte das erste Edelauge, hob ein neues ab und versuchte es einzusetzen. Es ließ sich nicht in die Rindenflügel zwängen, ich mußte es beschneiden und setzte die kurze, aber scharfe Klinge des Schnelläuglers an, drückte und glitt ab und sah, wie die Klinge schräg in den Zeigefinger hineinschnitt, bis zum Knochen drang sie ein, und mit dem Schmerz kam auch schon das Blut. Schnell drehte ich mich weg und wickelte mein Taschentuch um den Finger, und als Lauritzen belustigt sagte: Das ging wohl daneben, was?, setzte ich das Auge ein und legte einen Verband an, konnte aber nicht verhindern, daß der Bast fleckig wurde. Der tolpatschige Junge grabschte sich begeistert das veredelte Stück, steckte es in den Mund und kaute darauf, und unter

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