Lenz, Siegfried
waren unterwegs, bewegten sich in tumultartiger Eile hierhin und dorthin. Sie hatten sich aus eigener Kraft gelockert, von ihrem Standort befreit und krochen auf ihren Wurzeln in alle Richtungen – nicht planlos und wie das Gedränge es gerade zuließ, sondern organisiert und wie auf Befehl. Entkommen wollten sie uns nicht, die hastige nächtliche Wanderschaft geschah nur, weil sie die Quartiere wechseln, einen neuen Standort ausprobieren und den Chef und mich und die andern einmal sprachlos erleben wollten. Lärchen gruben sich schnell dort ein, wo eben noch Zypressen standen, die Eiche tauschte ihren Platz mit der trägwüchsigen Scheinbuche, der Pfeifenstrauch einigte sich mit dem Knackbusch und besetzte sein Erdloch; am eiligsten hatten es die Obstgehölze, Quitten, Pflaumen und Walnüsse. Im Traum blieb ich wach bis zum Morgen, und als der Chef endlich kam, erzählte ich ihm, was geschehen war; er hörte sich alles vergnügt an, jedenfalls nicht so, als ob der nächtliche Umzug uns nun große Mühen bereiten würde, und zwinkernd meinte er lediglich zum Schluß: Laß sie doch, Bruno, sie wissen selbst am besten, welcher Boden ihnen gut tut.
Max hat für meinen Traum nur ein Schmunzeln übrig, er will weiter, will vielleicht das Land ausschreiten, das ich bezeichnet habe, aber warum nur, warum geht er mit mir durch die Quartiere, in denen er sich doch nie blicken ließ, warum tut er so, als ob er alles begutachtet, das Mutterbeet, die Nadelhölzer. Einmal hat er zu mir gesagt: Nichts ist so verbreitet wie die Sorge, daß man verlieren könnte, was man besitzt.
Die Mauer ist noch feucht, in den Vertiefungen der Steine blinkt Regenwasser, wir suchen uns einen Platz aus und setzen uns auf sein Zeichen mit dem Rücken zur Holle und dem Weideland. Er könnte mir sagen, was mit dem Chef geschehen ist, geschehen wird, jetzt, wo wir allein sind, könnte er mir auch sagen, ob ich nun fortgehen muß von Hollenhusen, er wird mir die Frage nicht verübeln, Max nicht, er, der bestimmt nur hier ist, um etwas zu retten, hat für alles Verständnis.
Also, Bruno, sagt er, stell dir vor, dies wäre dein Land, vom Bahndamm dort hinten bis hierher, alles deines und auf deinen Namen eingetragen – was würdest du tun? Es gehört dem Chef, sage ich, er hat es gepachtet zuerst und dann erworben, und was entstanden ist, das ist nach seinen Plänen entstanden, er allein hat hier das Sagen und wird es immer haben. Gut, sagt er, aber nehmen wir mal an, es gehörte dir plötzlich, du wärst der Eigentümer, der frei verfügen könnte über alle Quartiere und Kulturen – was würdest du tun?
Was will er, warum stellt er so seltsame Fragen, das ist ein anderer Max, voll von Hintergedanken, vielleicht will er mir sogar eine Falle stellen, jetzt, wo alles bergab geht, wie Magda sagte, wie Lisbeth sagte. Was würdest du tun, Bruno, fragt er schon wieder. Dem Chef, sage ich, ich würde es gleich dem Chef überlassen mit allen Rechten, weil er kann, was kein anderer kann, und weil es nur ihm zukommt, zu bestimmen.
Die Blechschachtel mit Kirschkernen; dort, wo er sitzt, in einer Höhlung zwischen den Steinen, steckt meine Schachtel, doch ich kann sie nicht herausholen, nicht jetzt, vor seinen Augen möchte ich die Kerne nicht aufschlagen. Ich spüre genau, daß er mehr zu fragen hat und mehr fragen möchte, er schweigt nur, weil Joachim uns vom Heckenweg zuwinkt und mit schnellen Schritten herankommt, geradeso, als ob er uns gesucht hat, schon höre ich das Zischen der Ledereinsätze in seiner Kniehose. Immer muß er ein Stöckchen bei sich haben, ein glattes Stöckchen aus schwarzem Holz, das er mir schon manchmal auf die Brust gesetzt hat, wenn er mit mir sprach, wenn er mich ein zweites Mal ermahnte. Sie wechseln einen schnellen Blick – ich merke schon, daß sie etwas besprechen möchten –, Joachim gibt mir die Hand, er, der mir zuletzt die Hand gab an meinem Geburtstag, und nun fragt er: Alles in Ordnung, Bruno? Ja, wir sitzen hier nur, sage ich und will gleich tun, was er von mir erwartet, will zurück zur Packhalle gehen, aber sein Stöckchen ist noch dagegen: Hör zu, Bruno, es gibt da etwas zu regeln. Wir müssen uns zusammensetzen. Alle in der Festung sind der Ansicht, daß du auf einen Abend heraufkommen sollst. Du bekommst noch Bescheid.
Jetzt ist es soweit, jetzt werden sie mich fortschicken nach all der Zeit, vielleicht werden sie mir auch eine Photographie und einen Geldbetrag zum Abschied geben wie Lisbeth, feierlich
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