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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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zu mir herab, sah mich an, in ihrem Blick lag eine einzige dringende Bitte, und plötzlich legte sie den Brief auf mein Zudeck und sagte: Es geht nicht, Bruno; ich hab’s schon in der letzten Zeit gemerkt, aber das, woran du denkst, das geht nicht. Ich sah ihr an, wie schwer es ihr fiel, das auszusprechen.
    Ich fühlte, daß etwas zu Ende ging, ein kleines Gewitter zog mir durch den Kopf, alle Wörter waren weg, und es wurde auch nicht besser, als Ina mir eine Hand auf die Schulter legte; auf einmal mußte ich an den Memelfluß denken, er führte das letzte Eis hinunter, tragende Schollen, und ich stand auf einer Scholle und trieb fort und sah zu, wie die bläulichen Ränder schmolzen, schneller, immer schneller, ein Stück nach dem anderen löste sich, trieb davon, und am Ufer blieb mein Vater zurück, dessen Bootshaken mich nicht erreicht hatte.
    Du gehörst doch zu uns, sagte Ina, wir sind doch deine Familie. Das sagte sie, aber das war nicht alles; ohne daß sie ihre trockenen Lippen bewegte, sprach sie mit ihrer anderen, ihrer inneren Stimme, und ich hörte genau, wie diese Stimme sagte: Armer Bruno. Wenn ich nur wüßte, was alles sie damit gemeint hat; und was der Chef und Dorothea gemeint haben, wenn sie in gewissen Augenblicken weiter nichts sagten als: Laßt Bruno in Ruhe, traurig und mahnend und manchmal auch sorgenvoll, worauf sie dann immer diese Pausen machten, gerade, als ob Ungewißheit sie bedrückte. Aber ich kann mir schon denken, was es ist, es ist wohl mein ewiger Hunger, und es ist mein ewiger Durst, der sie ratlos macht.
    Einmal kam Dorothea dazu, wie ich aus dem Großen Teich am Dänenwäldchen trank, ich lag am Ufer, die Wolken spiegelten sich im Wasser, und ich hatte das Gefühl, aus dem Teich und aus dem Himmel zugleich zu trinken. Und plötzlich hat Dorothea gerufen: Mein Gott, du wirst ja noch platzen, Bruno; da hab ich gesagt, daß ich den ganzen Teich leertrinken könnte, wenn sie es nur wollte, doch sie hat mich aufgehoben und nach Hause gebracht. Und einmal hat der Chef mich in Lauritzens Steckrübenfeld erwischt, er hat ungläubig auf die Strünke geguckt, die ich hinterlassen hatte, er wollte es einfach nicht für möglich halten, daß so viele Steckrüben in mich hineingehen, und er hat kopfschüttelnd und in Sorge meinen Bauch befühlt und nur »Bruno, Bruno«, gesagt. Und er hat auch gesagt: Für dich gelten wohl andere Maßstäbe.
    Ich weiß nicht, wie das alles geschehen konnte mit mir, ich weiß nur, daß Ina mir ihren Bernsteintropfen schenkte – nicht das Kettchen, nur den Tropfen, und den hielt ich fest in der Hand, nachdem sie gegangen war, ich drückte und preßte ihn, bis es weh tat. Wenn ich nur wüßte, wo der Tropfen geblieben ist, er ist weg wie alles andere, vielleicht eingetreten in die Erde; vielleicht im Dänenwäldchen, überwachsen von Moos und Farn.
    Also wurde ich doch gerufen, manchmal höre ich meinen Namen, ohne daß mich einer gerufen hat, oder es ruft mich einer, und ich weiß nicht, wer es ist – aber im Tor steht Max, ein Tütchen in der Hand, aus dem er Rosinen und Nüsse in sich hineinschüttet, gleich wird er auch mir eine Handvoll abgeben von seiner Lieblingsmischung. Seine Schuhe sind lehmverschmiert, der Hosenaufschlag hat sich eingedunkelt, demnach ist er bereits unterwegs gewesen, gewiß war er bei den Obstgehölzen; mit seinem Gruß hält er mir schon sein Tütchen hin: Da, Bruno, probier mal. Er lobt den Morgen und zieht mich aus der Packhalle hinaus, er lenkt meine Schritte zu dem mehrreihigen Kultivator, ich merk schon, daß er etwas vorhat mit mir, Max, der mir noch einmal von seiner Lieblingsmischung anbietet und mich zum Sitzen einlädt auf dem Gestänge des Kultivators.
    Das hat mir mitunter gefehlt in der Stadt, sagt er und nickt hinüber zu dem ebenen Land, wo sie beim Verschulen zweijähriger Fichten sind, erst in der Abwesenheit spürst du, was du entbehrst. Ob ich noch manches Mal zur Gerichtslinde hinkomme, will er wissen, und ich sage nein. Ob ich mich noch unserer gemeinsamen Gänge am Ufer der Holle erinnere, will er wissen, und ich sage: Das war schön. Und der heiße, lange Sommer, ob ich noch gelegentlich an diesen Sommer denke, in dem die Holle fast versiegte und wir die Fische mit den Händen fingen, und ich sage: Da gab’s jeden Tag Fisch. Weißt du, Bruno, am Anfang, da hat Hollenhusen mir nicht viel bedeutet, doch je älter ich werde, desto mehr wird es mir zum Zuhause; das sagt er und sieht über unsere Quartiere

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