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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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immer weiter, bis zu den verlorenen Quartieren im Osten, in denen ich mich schon ganz gut zurechtfand, obwohl ich nie dagewesen bin. Das große Gewächshaus, die unermeßlichen Nadelholzquartiere, das von Weinlaub bewachsene Haus, in dem sie wohnten – ich sah alles gleich vor mir, auch den Waldsee, in dem die kleine Schwester des Chefs ertrunken war in einem Winter, weil sie sich zu früh aufs Eis gewagt hatte, auch den Fluß, der breiter und klarer war als die Holle und auf ein ganzes Stück der Familie des Chefs gehörte.
    Dort, an dem Fluß, wuchsen gesunde Weiden, und etwas weiter vom Ufer, auf sanft ansteigendem Land, da standen einige Ahorne zu beiden Seiten des Flusses, in Sichtweite, es sah wohl so aus, als ob die einen die anderen davon überzeugen wollten, daß es auf ihrer Seite besser sei. Einmal, als der Chef zum Fluß ging, um ein schnelles Bad zu nehmen, so kurz untertauchen und gleich wieder raus, da fiel ihm auf, daß Weiden und Ahorn übermäßig von Raupen befallen waren, es war weder der Ringelspinner noch der große Frostspanner, auch der putzige Braune Bär war es nicht, der den Bäumen zusetzte, es war eine unbekannte Raupe, schön gefärbt mit hornigem Kopf, mit Stacheln und glänzenden Punktaugen. Mit ihren beweglichen Fühlern tasteten sie sich zum Blattrand hin und sägten ihre halbbogenförmigen Löcher heraus, ganz unbekannte schöne Raupen. Während der Chef einige von ihnen auf die Hand nahm, war es ihm, als ob von den Blättern ein besonderer Geruch ausging, ein strenger, flüchtiger Fäulnisgeruch, den er nie zuvor wahrgenommen hatte. Gleich hat er einige Blätter gepflückt, mit bloßem Auge war ihnen nichts anzusehen, aber als er sie unter sein Mikroskop legte und einige Raupen auf sie setzte, konnte er erkennen, daß die Blätter sich unmerklich verdunkelten, und er spürte auch wieder, daß sie diesen flüchtigen Geruch aussonderten, einen Wirkstoff, der die Raupen nach einer gewissen Zeit träge machte, nicht sehr, nur ein bißchen.
    Am selben Tag ist er dann auf die andere Seite des Flusses gegangen – über die Brücke, deren Geländer aus Birkenholz war: vor ihm hatten sich Dorothea und er einmal photographieren lassen –, er ging hinüber und war ziemlich erstaunt, daß hier weder die Weiden noch die Ahorne von der unbekannten Raupe befallen waren, kein einziges Blatt war angesägt, dennoch entging ihm nicht, daß die verschonten Bäume denselben Geruch abgaben, den er unter den befallenen wahrgenommen hatte. Da mußte der Chef einfach glauben, daß die Bäume diesen Geruch aussonderten, um sich zu schützen, sie taten das vorsorglich, weil die andern sie gewarnt, weil sie Alarm gegeben hatten mit Hilfe des flüchtigen Wirkstoffs.
    Der Vater des Chefs, der lächelte nur darüber; er sagte: Vielleicht werden sie sich noch eines Tages mit dem Flaggenalphabet verständigen, unsere Bäume, Arme haben sie ja genug dazu, und er sagte auch: Bei den Tieren, da kann es angehn, daß sie Alarm geben, aber bei Gehölzen, da sollten wir lieber ein Fragezeichen machen. Den Chef hat das nicht davon abgebracht, die befallenen und nicht befallenen Weiden und Ahorne zu beobachten, zu vergleichen, er schrieb alles auf, er schickte die Blätter zur Untersuchung, und eines Tages wurde ihm bestätigt, daß da seltsame Stoffe in den Blättern drin waren, die sich im allgemeinen bei Weiden und Ahornen nicht nachweisen lassen; als er diese Nachricht bekam, ist der Chef zufrieden gewesen, er hat nun seine Entdeckung in ein Heft eingetragen, alles von Anfang an, und das Heft hat er an den alten Diplomgärtner in Johannisburg geschickt, an Plinski, der überall bekannt war für sein Buch über die Krankheiten der Gehölze.
    Der ließ, wie schon beim ersten Schreiben, lange nichts von sich hören, der schwieg so beharrlich, daß der Chef schon denken mußte, der Diplomgärtner Plinski sei gestorben, doch an einem Sonntag kam er selbst angefahren, begleitet von seiner Nichte, er, der zufällig in der Gegend zu tun hatte, kam selbst angefahren, es hatte ihn neugierig gemacht, was der Chef da herausgefunden hatte, er wollte persönlich mit ihm sprechen. Und nachdem er lange genug zugehört und gefragt hatte, forderte er den Chef auf, seine Beobachtungen fortzusetzen durch zwei Jahre, er gab ihm auch Ratschläge, und bevor er wieder wegfuhr, sagte er zum Vater des Chefs: Was der entdeckt hat, dein Junge, das kann mal Bedeutung für uns alle haben; wenn er weit genug ist, werde ich mich darum kümmern.

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