Lenz, Siegfried
als sie in der geöffneten Tür erschien und ins Dunkel spähte, pfiff ich noch einmal unseren eigenen, langgezogenen, etwas klagenden Pfiff, mit dem wir uns auf dem Kollerhof immer gleich fanden. Zehn Minuten wollte sie noch von mir haben, nicht mehr als zehn Minuten: sie wollte mich hineinziehen, in den Vorraum, doch ich wartete lieber draußen, setzte mich auf einen Fahrradständer und hörte zu, wie sie im Saal ihre Lieder sangen.
Was war bloß los mit ihr, sie hüpfte unterwegs, sie drehte sich plötzlich um sich selbst, verbeugte sich vergnügt vor mir und nahm für einen Augenblick meinen Arm, den sie so fest an sich drückte, daß ich ihre Rippen spürte; dann ging sie mit gespieltem Ernst; dann tat sie, als ob sie mir Gehorsam schuldete; dann rief sie: Los, wer ist zuerst zuhause, und rannte schon den Pappelweg entlang und ließ mir nichts anderes übrig, als hinterherzulaufen, bis zum gemauerten Brückchen zunächst und von dort über die Wiesen. Ich hätte sie einholen können, aber ich wollte es nicht, ich schloß nur knapp zu ihr auf und trieb und trieb sie, ihr Atem wurde immer schneller, ihr Keuchen heftiger, dort, wo lange ein Durchschlupf gewesen war, gab es keinen Durchschlupf mehr, weil sie die Pfähle gerichtet und den Stacheldraht neu gezogen hatten, sie stieg hinauf, der gespannte Draht knarrte und schwankte und schlug aus, und mitten in ihrem Sprung riß etwas, und sie fiel vornüber, fiel in den Graben. Kein Wasser, nur Modder; sie stand bis zu den Schenkeln in Modder, raffte mit einer Hand ihren Rock und hielt mir die andere Hand entgegen: Nu mach schon, und nachdem ich sie herausgezogen hatte aus der zähen, blubbernden Masse, herrschte sie mich an: Einen zu jagen, das kommt davon, wenn du einen so jagst, und sie befahl auch gleich: Los, reib das ab.
Sie blickte starr in Richtung Kollerhof und hielt ihren Rock hoch, und ich kniete vor ihr und wischte die Modderbatzen von ihren Beinen, zuerst mit den Fingern, dann mit Gras, und zuletzt, als da keine Klümpchen und Fäden mehr waren, wischte und rubbelte ich mit dem Tuch, das sie mir gab. Solange ich sie säuberte, sprachen wir kein einziges Wort, aus ihren Halbschuhen ließ sich der Modder nicht vollständig entfernen, und als ich sagte: Die Schuhe mußt du wohl waschen, sagte sie streng: Du wirst sie waschen, wer einen so jagt, der muß das tun. Aber dann haben wir uns doch wieder versöhnt; nachdem sie dem Chef und Dorothea erzählt hatte, was zu erzählen war, ist sie noch einmal in meine Kammer gekommen, hat sich vorgetastet bis zu meinem Kopfende, hat meine Hand verlangt und mir von ihrem Verdienst eine Mark geschenkt fürs Abholen und überhaupt. Es war ihr erstes selbstverdientes Geld, seit sie die Schule verlassen hatte.
In der Festung brennt nur unten Licht, sein Zimmer liegt im Dunkeln, vielleicht steht er am Fenster wie ich und sieht über seine Quartiere, in denen jetzt die Mäuse und die Nachtvögel unterwegs sind, gedeckt von leichtem Nebel, der von der Holle herantreibt. Vielleicht denkt er an mich, so wie ich an ihn denke. Morgen, ich hab das Gefühl, sie werden mich morgen schon auf die Festung bestellen, Max oder Joachim, dann werde ich auch von ihnen hören, was es auf sich hat mit dem Schenkungsvertrag, und ich werde wissen, was aus mir wird. Ein Drittel des Landes mit den dazugehörenden Einrichtungen: er kann das nicht gemeint haben, auch wenn er mich einmal seinen einzigen Freund genannt hat; sie werden sich bestimmt geirrt haben.
Heute muß ich rasiert sein. Wieder hab ich vergessen, ein paar Klingen zu kaufen, aber wenn ich die alte säubere, sie abziehe, dann wird es schon gehen, wenigstens werde ich mich nicht schneiden am unteren Rand der Narbe. Mit einer neuen Klinge hab ich mich manchmal schon so geschnitten, daß ein Dutzend Papierschnitzel, die ich auf die winzige Wunde draufklebte, durchgeblutet ist, und einmal hat Ewaldsen zu mir gesagt: Aus dir blutet es ja wie aus einem gestochenen Schwein, und er hat auch zwinkernd gefragt, ob er mir nicht Nachhilfe geben sollte beim Rasieren. Einen neuen Rasierspiegel, den werde ich mir vielleicht zum Geburtstag wünschen, obwohl der Sprung mich nicht stört, er läuft genau über den Mund, und ich hab mich schon so an ihn gewöhnt, daß er mir kaum noch auffällt. Mit dem gleichen Dachshaarpinsel schäumt sich auch der Chef ein, einen schöneren Pinsel gibt es bestimmt nicht, ich möchte nur wissen, ob die Haare vom lebenden oder vom toten Dachs sind.
Heute muß ich
Weitere Kostenlose Bücher