Leon, Der Slalomdribbler
Schneeflocken versperrten die Sicht. Sie klatschten dumpf gegen die Fensterscheiben, als wollten sie alles wie unter klebriger Zuckerwatte ersticken. Doch das Trommeln war lauter. BAMM! BAMM! Der feuchte Schnee versprach Tauwetter und das gab uns Kraft.
Nur noch zwei Tage und die ersten Sonnenstrahlen! Es war nur ein winziger Spalt über dem steingrauen Horizont, doch wir hatten den Winter besiegt. Die letzten Schneeflocken tanzten im Sonnenlicht, und mit ihnen tanzte der Fußball zwischen unseren Füßen. Marlon und ich waren jetzt mitten im Spiel: Unser Kinderzimmer in der Hubertusstraße war längst das Olympiastadion und wir merkten es nicht, wirklich nicht, wie wir ein Modellflugzeug nach dem anderen von der Decke abschossen.
Endlich war Maxi „Tippkick” Maximilian wieder der Mann mit dem härtesten Schuss auf der Welt. Sorgfältig legte er sich in der Alten Allee Nr.1 den Ball zum Freistoß auf dem Wohnzimmerteppich zurecht. Dann musterte er den Abstand zur Mauer des Gegners, die jetzt wirklich für ihn vor der Glasvitrine stand.
Im Fasanengarten Nr. 4 stürmte Fabi, der schnellste Rechtsaußen der Welt, durch sein Zimmer, immer die Außenlinie entlang. Und im Haus gegenüber wartete Juli „Huckleberry” Fort Knox, die Viererkette in einer Person, auf seinen kleinen, ihn angreifenden Bruder. Der sah plötzlich so aus wie Ebbe Sand.
Es war fantastisch! Wir hatten gewonnen. Der Winter schien endlich besiegt. Die Osterferien waren gerettet. Da wurde Fabi zu schnell. Er konnte nicht bremsen und krachte ins Bücherregal. Bücher und Kisten stürzten auf ihn herab und der Fasanengarten erbebte.
Als Nächstes hob Marlon den Ball. Es war der perfekte Pass in den Raum. Ich lief ihm entgegen und machte einen „Seitrückfaller”. Das ist meine Spezialität. Es war das alles ent-scheidende Tor. Doch der Ball sprang vom Außenspann und donnerte gegen die Lampe. Das Flutlicht in unserem Olympiastadion erlosch und wir waren wieder in der Hubertusstraße.
Trotzdem hängte sich Juli „Huckleberry” Fort Knox an die Fersen von Ebbe Sand. Er grätschte im allerletzten Moment, um das Tor zu verhindern. Er grätschte und rutschte direkt in die Beine seiner Mutter hinein, die urplötzlich mit dem Abendbrot in der Zimmertür stand. Der Fasanengarten erbebte, jetzt schon zum zweiten Mal, und das Nutellabrot flog durch die Luft in Joschkas Gesicht, Julis kleinerem Bruder, in den sich Ebbe Sand plötzlich zurückverwandelt hatte.
Nur in der Alten Allee war es noch ruhig. Maxi „Tippkick” Maximilian hielt sogar die Luft an, damit es noch ruhiger wurde. Dann lief er an. Er lief an und donnerte das Leder über die Mauer hinweg. Sekundenbruchteile später schlug der Ball ein, direkt in den Winkel und haarscharf neben der Glasvitrine gegen die Wand.
Auf Maxi „Tippkick” Maximilians Gesicht entstand sein berühmtes, lautloses, grinsendes Lächeln: Das war ein Schuss!
Und mit diesem berühmten, lautlosen, grinsenden Lächeln sah Maxi „Tippkick” Maximilian zu, wie der Ball von der Wand zurückprallte und das Wohnzimmerfenster auf der anderen Seite durchschlug. Dort rollte er weiter und rollte und rollte, bis ihn der Fuß von Maxis Vater, der gerade von der Arbeit in der Bank zurückkam, elegant stoppte. Das berühmte, lautlose, grinsende Lächeln um Maxis Lippen erstarb. Es war jetzt endgültig dunkel geworden und bis zum Ferienbeginn blieb uns nur noch ein einziger Tag.
Das Ende der Welt!
In der Nacht war es still. Still wie im Auge eines Orkans. Unsere Betten waren jetzt steinharte Pritschen und unsere Kinderzimmer so dunkel und grau wie Gefängniszellen. In diesen Gefängniszellen lagen Fabi, Juli, Joschka, Maxi, mein Bruder Marlon und ich und warteten schlaflos auf die Urteile unserer Richter. Selbst Raban, der überhaupt nichts ausgefressen hatte, hielt in der Rosenkavalliersgasse Nr.6 seinen Teddy im Arm und traute sich nicht mehr zu atmen.
Am nächsten Morgen war es immer noch still. Wortlos standen wir auf und wunderten uns nicht, als unsere Eltern nach unserem Guten-Morgen-Gruß ihr Gespräch unterbrachen und schwiegen. Im Auge eines Orkans muss man vorsichtig sein. Da bewegt man sich nicht, denn um einen herum tobt der Sturm. Das wussten wir alle. Deshalb zuckten wir nicht mit der Wimper, als unsere Väter und Mütter die Strafen verkündeten:
Fabi, mein bester Freund, neun Jahre alt, aus dem Fasanengarten Nr.4, verurteilt zu drei Tagen Hausarrest; und sein Ball verschwand auf dem höchsten
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