Leonardos Drachen
redete wieein Wasserfall. „Mit der Familie Pazzi sind die Medici doch seit Langem verfeindet, und ich nehme an, dass es noch andere gibt, die gerne selbst die Herrschaft an sich reißen würden! Florenz gilt schließlich als die reichste Stadt der Welt. Und dann denk mal an all die Leute, die sich bei der Bank der Medici Geld geliehen haben und es vielleicht nicht zurückzahlen können! Auch die könnten ein Interesse daran haben, dass Piero de’ Medici umgebracht wird. Und der Papst und der König von Frankreich oder der Fürst von Mailand könnten auch dahinterstecken. Aber daran glaube ich nicht, denn die hätten ausgebildete Söldner geschickt – nicht Männer, die vermutlich erst vor Kurzem gelernt haben, wie man mit einer Hakenbüchse umgeht.“
„Halt, halt“, fuhr Clarissa dazwischen. „Du redest einen ja schwindelig!“
„Herr Piero hat mich ja ausdrücklich in den Palast eingeladen und mir erlaubt, in seiner Bibliothek zu stöbern. Vielleicht kann ich ihm bei der Gelegenheit ein paar Ratschläge geben. Allerdings fürchte ich, dass er sie nicht annehmen wird.“
„Wieso nicht?“
Leonardo zuckte mit den Schultern. „Das ist meistens so. Ich habe irgendwie keine glückliche Art, meine Ratschläge mitzuteilen.“
„Wie kommst du denn darauf? Immerhin haben die Söldner des Stadtherren es genauso gemacht, wie du es ihnen gesagt hast, als sie die Banditen im Hinterhalt verjagten!“
„Ja, aber ich glaube kaum, dass sie wirklich systematischnach Männern suchen, die vor Kurzem mit Waffen ausgestattet und daran ausgebildet wurden.“
„Vergiss nicht, dass nicht du der Stadtherr bist, sondern Piero de’ Medici!“, warnte Clarissa.
Leonardo schien ihr gar nicht mehr zuzuhören. Sein Blick war durch das Fenster auf die andere Straßenseite gerichtet, so als erwartete er, dass dort jeden Moment der Mann im Kapuzenmantel wieder auftauchen würde. Aber das geschah nicht.
Clarissa hatte inzwischen einen Stapel von Blättern auf einem Regal bemerkt, der ihr bisher noch nicht aufgefallen war.
Es waren Zeichnungen – allesamt mit Bleistift ausgeführt. Wie bei seinen Maschinenzeichnungen hatte Leonardo auch hier die Blätter bis an den Rand ausgenutzt, Papier war schließlich kostbar. Die einzelnen Bögen waren voller Gesichter.
Clarissa nahm das erste Blatt herunter und sah dann auf dem folgenden Blatt ein Gesicht, das ihr nur allzu bekannt war. Ihr eigenes!
Es war so erschreckend gut gezeichnet, dass Clarissa im ersten Moment beinahe glaubte, in einen Spiegel zu blicken. Der Fall des dunklen Haars, die kurze, gerade Nase, das kleine Grübchen am Kinn … Das war alles sehr gut getroffen.
Leonardo hatte ihr Gesicht allerdings nicht nur einmal, sondern gleich ein Dutzend Mal gezeichnet. Ein Kopf reihte sich dicht an den nächsten – und jeder von ihnen hatte einen anderen Gesichtsausdruck. Von heiter und fröhlich bis zu tiefster Traurigkeit war alles vorhanden,was man mit einem Gesicht an Gefühlen ausdrücken konnte. Auf einem der Bilder sah Clarissa sogar hasserfüllt und böse aus – so böse, dass Clarissa darüber im ersten Moment erschrak.
Hatte sie jemals so ausgesehen? Oder war das nur ein Ergebnis von Leonardos überschäumender Fantasie?
„Nein, Clarissa! Lass das liegen!“, drang nun Leonardos Stimme in ihre Gedanken.
Sie hatte gerade das nächste Blatt vom Stapel genommen, sodass ein Papierbogen zum Vorschein kam, auf dem Leonardo seinen Vater und seine Stiefmutter Melina in allen nur denkbaren Variationen dargestellt hatte. Vom herzlichen Lachen bis zur finstersten Miene und allen Stufen dazwischen hatte Leonardo systematisch ausprobiert, wie ein Gesicht wirken konnte. Man konnte sehen, dass er insbesondere an den Augenpartien und um den Mund herum offenbar immer wieder radiert hatte, denn es gab dort die typischen Schmierflecken, die dabei entstanden.
Leonardo nahm ihr die Blätter weg und legte sie wieder auf den Haufen.
„Was ist das denn?“, fragte sie – gleichermaßen erstaunt und beeindruckt. Sie wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Aber Leonardo war es offenbar unangenehm, dass sie diese Blätter gesehen hatte. Jedenfalls nahm er den ganzen Stapel und räumte ihn in die Schublade unter seinem Tisch. Die war allerdings auch schon ziemlich voll, und so musste er stopfen. Das Papier knisterte dabei.
„Das geht dich nichts an!“, sagte er schroff.
„Wieso geht mich das denn nichts an?“, fragte Clarissa verständnislos. „Schließlich ist
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