Leonardos Drachen
es doch auch mein Gesicht, das da zu sehen ist!“
Leonardo seufzte. „Da habe ich mal was ausprobiert“, gab er gereizt zurück. „Wie Gesichter aussehen und wie man sie so auf das Papier bekommt, dass sie einen richtig anzuschauen scheinen.“
„Vielleicht solltest du Maler werden!“
„Vielleicht werde ich das ja.“
Clarissa sah ihn einen Augenblick an und fragte schließlich: „Schenkst du mir eines von den Bildern?“
„Nein“, sagte Leonardo sehr bestimmt.
„Wieso nicht? Kannst du mich nicht leiden oder was ist plötzlich los?“
Leonardo wollte etwas sagen. Er öffnete den Mund, aber es kam kein Ton über seine Lippen. „Nein, das hat einen anderen Grund“, sagte er dann. „Die Bilder sind einfach noch nicht gut genug. Wenn ich eines geschaffen habe, das wirklich perfekt ist, schenke ich es dir.“
„Versprochen?“
„Versprochen. Und jetzt geh besser, sonst wird Melina nachher wieder herummeckern, wenn du so lange auf meinem Zimmer warst. Und ich habe außerdem noch einiges zu tun.“
„Und was?“
„Musst du alles wissen?“
„Du willst wohl noch die Eidechse zerteilen und denkst, dass ich das ekelig finde.“
„Stimmt doch auch, oder?“
„Allerdings!“
Der Ernst des Lebens
L eonardo zerteilte noch die Eidechse, denn er wusste genau, dass es nur Ärger mit Melina gab, wenn er damit so lange wartete, bis es im Zimmer schlecht roch. Sorgfältig schnitt er die einzelnen Organe heraus und tat sie in unterschiedliche Behälter aus Ton. Die hatte seine Mutter auf der Töpferscheibe ihres Mannes gefertigt. Leonardo wusste genau, dass sie insgeheim ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie ihn mit fünf Jahren zum Großvater gegeben hatte und in ihrer neuen Familie kein Platz für ihn war. Leonardo hatte diesen Umstand ab und zu ausgenutzt, denn er konnte von diesen kleinen und großen Krügen gar nicht genug bekommen. Schon sein Zimmer im Haus seines Großvaters war voll davon gewesen. Zumindest einen Teil der Krüge hatte Leonardo mit nach Florenz nehmen können. Die anderen Behälter, in denen er zum Teil uralte Proben aufbewahrte, musste er leider in Vinci zurücklassen. Und wenn er ganz ehrlich war, dann konnte man vieles davon wohl nicht mehr für irgendwelche Untersuchungen gebrauchen.
Großvaters Haus stand jetzt leer. Falls er doch noch irgendetwas von seinen zurückgelassenen Sachen brauchte, konnte er jederzeit nach Vinci zurückkehren und es sich holen. Sechs Stunden Fußmarsch brauchteman bis dort hin. Mit dem Pferd war man etwas schneller, mit einem Eselskarren langsamer.
Von draußen hörte Leonardo das Geräusch eines Pferdewagens. Die Bremsen quietschten etwas. Die Pferde schnaubten. Die Uhren an den Kirchtürmen der Stadt schlugen gerade Mitternacht. So spät war Ser Piero d’Antonio noch nie aus dem Palast zurückgekehrt.
Leonardo ging zum Fenster.
Er sah, wie sein Vater aus der Kutsche stieg, die ihn zu seinem Haus gebracht hatte. Kaum hatte Ser Piero festen Boden unter den Füßen, da trieb der Kutscher die Pferde an und der Wagen fuhr weiter. Dass man Leonardos Vater mit einer Kutsche von zu Hause abholte und später auch wieder zurückbrachte, war erst seit Kurzem so. Offenbar war seine Arbeit für die Familie Medici in letzter Zeit noch wichtiger geworden. Aber vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass der alte Cosimo sehr viel geiziger gewesen war als sein Nachfolger.
Für einen Moment glaubte Leonardo, eine Bewegung auf der anderen Straßenseite zu sehen. Nur eine Bewegung im Schatten – mehr konnte er nicht erkennen. Dann kam ein Nachtwächter mit Laterne und Hellebarde die Straße entlang.
L eonardo hörte, wie sein Vater sich kurz mit Melina im Erdgeschoss unterhielt. Dann kam Ser Piero die Treppe herauf, die dabei ziemlich laut knarrte. Für Leonardo hatte diese Treppe den Vorteil, dass er Zeit genug hatte, alles wegzuräumen, was niemand sehen sollte,wenn Melina oder sein Vater ins Obergeschoss kamen. So auch diesmal. Er tat die Reste der Eidechse einfach in ein freies Gefäß. Noch hatte er ein paar davon. Sorgfältig verschloss er es mit dem Deckel, unter den er noch einen Stück Lumpen legte, damit möglichst wenig von den Gerüchen nach außen drang.
Er hatte es irgendwie geahnt, dass Vater noch zu ihm wollte. Nur wenig später war er schon an der Tür.
„Leonardo?“
„Ja, Vater?“
Leonardo öffnete und sein Vater stand vor ihm. Er trug einen neuen Umhang, der am Kragen mit Brokatstreifen besetzt war und samtig im
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