Léonide (German Edition)
nächtlichen Ausflug erfahren.
»Willem«, flüstere ich in die Stille hinein und ziehe die Phiole aus der Manteltasche. Im Mondlicht schimmert die Flüssigkeit milchig weiß. Ich seufze, lasse mich an meiner Zimmertür zu Boden sinken und weine. Weine um Willem und seine Kran k heit, um meine mutlosen Eltern, sogar um Costantini, den klugen alten Mann, den ich hintergangen habe.
Meine Träume sind merkwürdig verworren und fiebrig und scheinen der stickigen Luft und drückenden Schwüle eines bevorstehenden Sommergewitters zu entspringen. In meinem Traum höre ich das Grillen von Zikaden, rieche Pinien und Lavendel. Über mir glüht eine rote Sonne, unter mir raschelt verdorrtes Gras. Die Landschaft ist ein wogendes Meer aus wettergebeugten Pflanzen, ohrenbetäubendem Zikadenra u schen und Gerüchen, von denen mir schwindelig wird. Die Sonne prickelt auf meiner Haut wie Salz.
Ich wandere durch das Gras, das unter jedem meiner Schritte knistert. In der Ferne sind die verschwommenen Punkte von Olivenbäumen zu sehen. Der Himmel über mir ist von einem Blau, das einer Halluzination zu entspringen scheint.
»Léonide!«
Ich bemerke meinen Bruder, der ein Stück von mir entfernt vor einer Leinwand steht und mir zuwinkt. Er hat Pinsel und Palette in Händen und lächelt breit, was seine hohlen Wangen und die Fältchen um seine Augen nur noch mehr betont. Sein rotes Haar steht wild in alle Richtungen ab, und er hat sich offenbar seit Tagen nicht rasiert. Seine Kleidung ist fleckig – Ölfarbe.
Ich laufe zu ihm und sehe über seine Schulter auf die Lei n wand, die bereits zu großen Teilen mit Farbe bedeckt ist. Ich stelle mir vor, wie er direkt nach Sonnenaufgang losmarschiert ist, um sich einen Platz zum Malen zu suchen und ein Motiv, das ihn reizt. Wie er die Landschaft vor sich fieberhaft mit kräftigen, dynamischen Strichen und vielen kontrastiven Fa r ben auf die Leinwand bannt, während die Sonne unbarmhe r zig seine Haut verbrennt. Seine Bilder wirken plastischer als die anderer Künstler, weil er die Farbe so dick aufträgt.
Willems Bild zeigt ein Meer von vertrocknetem Gras, in den Farben von reifem Weizen und Zitronen gehalten. Olive n bäume, Pinien und Zypressen bevölkern die Landschaft. Mit ihren krummen Ästen und geschwungenen Umrissen in Silber und Dunkelgrün sehen sie wie Menschen aus. Über ihnen spannt sich ein üppig bewölkter Himmel.
»Gefällt es dir?« Willem wirkt immer nervös, wenn er auf e i ne fremde Me i nung wartet, und so ist es auch jetzt.
Ich nicke nur, weil ich in diesem Augenblick keine Worte h a be. Das Bild wirkt wie ein Traum, der sich in der realen Welt abspielt, einerseits authe n tisch, andererseits intensiver, als die Wirklichkeit jemals sein kann. Dieser Kontrast zwischen Gelb und Blau, das wie Meereswellen wogende Gras und der alles domini e rende Himmel – ein Teil von Willems Persönlichkeit, von seiner Gemütsverfa s sung.
Ein heißer Luftzug erfasst mein Kleid und fährt durch das trockene Gras. Erst jetzt, da ich meinen Blick von Willems Bild abgewandt habe, merke ich, dass das Wetter umschwingt. Der Himmel ist dunkler geworden und die Wolken verdichten sich wie der Dampf über einem Kessel. Ein Sturm zieht auf. Irgendwo in der Ferne höre ich den heiseren Schrei einer Kr ä he.
»Ich habe das Gefühl, dass meine Geschichte noch nicht e r zählt ist.«
Erstaunt über den Klang seiner Stimme blicke ich wieder zu Willem, der wie ich den Sturmhimmel betrachtet. Sein Gesicht wirkt leer, ein Ausdruck, den ich nie zuvor bei ihm gesehen habe. Wütend oder von Schmerz erfasst, euphorisch oder vom Arbeitsfieber ergriffen , das ja, aber niemals gleichgültig.
Dann erst wird mir bewusst, dass ich die Worte und die Stimme schon einmal gehört habe. An einem anderen Ort, an den ich mich nicht erinnern kann, der aus einem mir unerfin d lichen Grund hinter einer geschlossenen Tür in meinen G e danken verborgen liegt, deren Schlüssel ich verloren habe … Woher kenne ich sie bloß, diese Stimme?
Gerade, als ich Willem fragen will, was er meint, beginnt die Veränderung. Anfangs vollzieht sie sich beinahe unmerklich, hinterlässt kaum Spuren im Gesicht meines Bruders. Ich aber kenne sein Gesicht besser als jeder andere Mensch und b e merke sie sofort. Erschrocken strecke ich die Hände nach ihm aus, doch er schiebt mich von sich, in seinen Augen ein Au s druck von Trauer, und versucht, sein Gesicht in den Händen zu verbergen. Immer schneller malt eine fremde Kraft
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