Léonide (German Edition)
gehoben wäre?
»Ich weiß nicht, ob es gut wäre, Willem von seiner Familie zu trennen«, sagt mein Vater. »Er hängt so an Léonide. Wenn Sie ihn wegbrächten, würde sich sein Zustand vielleicht noch verschlechtern.«
Verschlechtern? Was in aller Welt ist schlimmer als das?
Gagnier betrachtet meinen Vater gedankenverloren, ehe er langsam nickt. »Nun, ich kann Ihnen versichern, dass sich hierfür eine Lösung finden ließe. Er wäre der Insasse einer Nervenheilanstalt, kein Gefangener. Selbstverständlich dürfte seine Schwester ihn täglich besuchen, und auch das Malen w ä re ihm als Therapie erlaubt, sobald er wieder dazu in der Lage wäre.«
»Ich werde darüber nachdenken.« Mein Vater legt seine Hand dankend auf Gagniers Schulter.
Gagnier nickt erneut, greift nach seiner Tasche und vera b schiedet sich. Meine Eltern schütteln ihm mit abwese n dem Ausdruck die Hand. Cornélie weint nicht mehr, aber die Sp u ren zeichnen sich in ihrem erschöpften Gesicht ab. Mit einem Nicken in meine Richtung und einem ermutigenden Gruß ve r lässt Monsieur Gagnier das Haus.
Ich verliere kein Wort über die Pläne des Arztes, sondern verwende meine Kraft stattdessen darauf, meinen Vater zu überreden, mich endlich zu meinem Bruder zu lassen. Er wirkt noch immer skeptisch, willigt aber ein unter der Bedi n gung, dass ich das Zimmer sofort verlasse, falls Willem Anze i chen unterdrückter Aggressivität zeigt. Innerlich fällt es mir schwer, Willem als eine Bedrohung anzusehen – er ist doch immer noch mein Bruder, ich weiß, dass er mir niemals etwas antun würde – dass er mich niemals verletzen würde, dass er eher sterben würde.
Die Tür knarrt, als ich sie hinter mir schließe. Diesmal ist die Luft besser; Monsieur Gagnier oder jemand anderes hat das Fenster geöffnet. Ich erstarre, als ich Willem auf dem Bett li e gen sehe.
Er sieht aus, als wäre alle Lebenskraft mit einem Schlag aus ihm gewichen. Sein Körper wirkt bewegungsunfähig wie der einer Marionette, der man die Fäden durchtrennt hat. W a rum fällt mir erst jetzt auf, wie dünn er geworden ist? Seine Wa n genknochen und das Schlüsselbein stechen deutlich he r vor, Arme und Beine wirken wie knorrige Äste.
Gagnier hat Willems Auge mit frischem Mull verbunden, doch schon jetzt hat sich ein leuchtender Blutfleck auf dem Weiß gebildet. Diesmal ist es keine Verletzung, die einfach verheilen und in einigen Wochen vergessen sein wird. Diesmal hat mein Bruder seinen Körper verstümmelt und es werden mehr als nur Narben zurückbleiben. In welchem Zustand muss er gewesen sein, um sich selbst so etwas anzutun? Etwas, das all seinen Überzeugungen, seinem Glauben an Schönheit und Freiheit, Natur und göttliche Schöpfung zuwiderläuft?
Ich setze mich ans Bett und starre auf die blütenweiße Bet t wäsche, male in Gedanken Muster auf den Stoff. Mögliche r weise ist dies das letzte Mal, dass ich hier bei ihm sitze, denn wenn Gagnier morgen zurückkehrt, wird mein V a ter ihm seine Frage beantworten. Dann werden sie Willem fortbringen, und ich werde ihn nur noch unter Aufsicht von Ärzten und Schwestern sehen können.
Ich weiß, dass die Anstalt Willem nicht gefallen wird. Selbst, wenn sie ihm erlauben, zu malen und Besuch zu empfangen, wird er sich wie ein Gefangener fühlen . Er wird die Mauern der Klosteranlage mit dem Gefängnis in seinem Inneren ve r wechseln, mit den Stimmen und Bildern, die es ihm unmöglich machen, Ruhe zu finden. Zu sich selbst zu finden. In Wah r heit, denke ich manchmal, ist sein größter Feind er selbst. Er ist eine Geisel seiner Ängste und Selbs t zweifel. Vielleicht sind seine Bilder deshalb so voller Au s druckskraft, so rhythmisch und dynamisch.
Willem hält sein verbliebenes Auge geschlossen. Zum ersten Mal seit Wochen atmet er gleichmäßig. Als ich seinen Namen murm e le, starrt er mich wie eine Fremde an. Es dauert einen Augenblick, bis er zu sich kommt und begreift, wo und in we s sen Gesellschaft er sich befindet .
»Léo.«
Eine Träne tropft von meiner Nasenspitze auf die Bettw ä sche. »Was hast du dir nur gedacht? Warum hast du das g e tan?«
Willems Gesicht wirkt abweisend. Während er sich aufsetzt, schaut er mich nicht an, sondern fixiert einen Punkt irgendwo über meiner rechten Schulter. »Das verstehst du nicht.«
So etwas hat er noch nie zu mir gesagt – noch nie hat er mich aus seinen Gedanken und seinem Leben ausgeschlossen. Wir wissen alles voneinander, haben uns nie belogen oder G e
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