Léonide (German Edition)
Antwort. Sie ist unerträglich, diese Stille, die Mutl o sigkeit. Ich möchte schreien, will meine Eltern beiseitene h men und schütteln, damit sie aus ihrer Starre erw a chen. Sie sind meine Eltern – um Gottes willen, sie müssen doch etwas tun, irgendetwas!
Ich eile an meinem Vater vorbei in den Flur, auf die Tür zu Willems Zimmer zu. Wenn sie nicht mit mir reden wollen, werde ich mich eben selbst vergewissern.
Mein Vater hält mich auf. Ich spüre den Griff seiner Hand an meinem Oberarm, höre auch das vehemente »Nein«, das zwischen seinen Lippen hervorbricht.
»Willem«, weint meine Mutter.
»Was ist passiert?« Nur mit Mühe gelingt es mir, meine Wut im Zaum zu halten. »Was um Himmels willen ist passiert?« Ich versuche, ruhig zu bleiben und das schnelle, kraftvolle Klopfen meines Herzens zu ignorieren, den rauschenden Puls in me i nen Ohren, den Geschmack von Salz und Metall in meinem Mund.
Endlich lässt mein Vater mich los, und zum ersten Mal seit Wochen sieht er mich an – sieht mich wirklich und wahrhaftig an.
»Sagt es mir. Sagt es mir, und dann lasst mich zu ihm.«
»Léonide, dein Bruder hatte einen Anfall. Er … ist laut und aggressiv geworden, wir konnten ihn nicht beruhigen.« Den letzten Satz zögert mein Vater hinaus. »Er hat sich das Auge ausgestochen.«
Es sind nur Worte, sechs einfache Worte, doch sobald sie ausgesprochen sind, ist nichts wie zuvor. Mein Körper ist nicht mehr da, ich spüre ihn nicht mehr. Meine Füße berühren den Boden, doch ich finde keinen Halt, die Schwerkraft ist außer Kraft gesetzt, ich schwebe im leeren Raum. Wie aus weiter Ferne höre ich das Schluchzen meiner Mutter und meinen V a ter, der auf sie einredet.
»Ich muss zu ihm«, sage ich, ohne zu begreifen. Meine Stimme klingt anders als sonst, weniger nah, weniger flüchtig. Als besäße sie einen eigenen Körper, der lange Zeit verharrt, ehe er sich schließlich in Luft auflöst.
»Begreifst du nicht?«, sagt Théodore. »Willem hat gewütet wie nie zuvor, du kannst jetzt nicht zu ihm . Außerdem kü m mert sich bereits Gagnier um ihn.«
»Gagnier ist hier?«
Monsieur Gagnier ist Arzt und ein Bekannter meines Vaters. Er hat den Ruf eines fortschrittlichen Mediziners; dennoch missfällt mir der Gedanke, dass er Willem ohne unser Beisein behandelt.
Plötzlich schäme ich mich. Meinen Eltern und Gagnier ist nichts vorzuwerfen, denn sie haben ihr Bestes getan. Ich dag e gen habe Willem im Stich gelassen, ihn enttäuscht.
Das Öffnen und Schließen einer Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Das Weinen meiner Mutter wird leiser. Gagnier gesellt sich zu meinem Vater. Ich sehe ihm sofort an, dass ihm etwas Sorgen bereitet.
»Wie geht es ihm?«, frage ich anstelle von Théodore.
Monsieur Gagnier betrachtet mich aufmerksam, ein Blick, der tiefer zu gehen scheint, als mir lieb ist. Es ist, als wüsste er sowohl von meiner Begegnung mit Costantini als auch von der Arznei, die verborgen in einer Nachttischschublade in meinem Zimmer liegt.
»Sehr schlecht, fürchte ich. Er ist unterernährt und schläft zu wenig. Wenn er seine Kräfte nicht schont, werden die Anfälle und das Fieber ihn zugrunde richten.«
Cornélies trockenes Aufschluchzen ist das einzige Geräusch, das die Stille durchbricht. Mein Vater reibt sich über Augen und Stirn. Gagnier senkt, den meinen freigebend, den Blick; die Situation und das Leid der Familie seines Freundes sche i nen ihm unerträglich zu sein.
Zugrunde richten. Mein Bruder Willem wird sich selbst z u grunde richten.
»Théodore«, sagt Gagnier, »ich werde morgen wieder nach Ihrem Sohn sehen, aber ich möchte, dass Sie derweil in B e tracht ziehen, ihn anderswo unterzubringen, wo er besser au f gehoben wäre. An einem Ort, an dem man sich um ihn kü m mern, ihm Therapien anbieten könnte.«
»Woran denken Sie?«, erwidert mein Vater leise.
»In der Abtei Saint-Paul-de-Mausole könnte man ihn w e sentlich besser behandeln. Hier bei Ihnen zu Hause habe ich nur eingeschränkte Möglichkeiten.«
Mein Vater scheint zu zweifeln. Sag Nein, flehe ich stumm. Dann aber frage ich mich, ob ich damit nicht meine Bedür f nisse über Willems stelle. Ob ich nicht sogar die Möglichkeit seines Todes in Kauf nehme. Ich glaube inzwischen nicht mehr daran, dass Costantinis Arznei ihm helfen kann. Seit zwei Wochen verabreiche ich sie ihm ohne Erfolg, die Hälfte ist bereits aufgebraucht. Was, wenn Monsieur Gagnier recht hat? Wenn mein Bruder in einer Nervenheilanstalt besser au f
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