Léonide (German Edition)
lange nicht mehr lächeln gesehen, dass der Anblick mich nun, da es so weit ist, heftig trifft. Die Wu n de, die sein Tod mir zugefügt hat und von der ich g e glaubt habe , sie sei mittlerweile verheilt oder zumindest vernarbt – nun ist sie wieder aufgebrochen.
»Ich wusste, dass du nicht tot bist. Ich habe es immer g e wusst.«
Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, doch ich weiß, dass der Wind sie zu ihm tragen wird. Wie gelähmt starre ich zu ihm hinüber, ehe meine nackten Füße sich in Bewegung setzen und mich ans Ufer tragen, wo das salzige Wasser sie umspült und ich die Zehen in den feuchten Sand graben kann.
Willem schaut nicht länger in meine Richtung, sondern hat mir den Rücken zugewandt. Seine Hände schweben über der Wasseroberfläche, die sich in Wogen an seinen Schenkeln bricht. Ich mache einen weiteren Schritt und tauche ins kalte Wasser, das sich wie kleine Nadelspitzen in meine Haut bohrt und mich mit einem Gefühl von angenehmer Taubheit und Wärme erfüllt. Ich kümmere mich nicht um meine Kleidung und tauche ganz unter die Wasseroberfläche, wo die Welt still und dunkel ist und das Licht nur gedämpft zu mir dringt. Es ist ein magischer Ort, ein Ort wie in Fantasien und Träumen, mit denen die Realität nur in den seltensten Fällen oder auch überhaupt nicht mithalten kann. Hin und wieder huscht ein Fisch wie ein winziger Silberpfeil an meinen Augen vorbei, doch ansonsten ist das Leben unter Wasser träge, so viel lan g samer als an der Luft. Oben, wo der Wind tost und die Sonne einen verbrennt, wo die Düfte einen verwirren und die Gerä u sche in den Ohren schmerzen, und dann dieser Ort, so tief, so still.
Warum bleibst du dann nicht hier?
Ich schließe die Augen und lasse mich eine Weile treiben, genieße das Gefühl der Schwerelosigkeit und der absoluten Stille. Ich fühle mich Willem ganz nah, näher vielleicht als j e mals zuvor. Das Wasser hat eine Stimme und flüstert ununte r brochen seinen Namen und zärtliche Worte, und sie bewegen etwas in mir, brechen sich wie sanfte Wellen in meinem Inn e ren.
Als ich die Augen wieder öffne, wird mir klar, dass die Stimmen nicht dem Wasser oder den Wellen gehören – z u mindest nicht nur. Vor meinen Augen erscheinen weiße und silberne Gesichter, in ein zartes, schwebendes Licht getaucht wie Mondschein. Die Gesichter gehören Wesen in schi m mernden Kleidern, durchwirkt mit Perlen aus Silber, Gold und Perlmutt, die Gliedmaßen so weiß wie alles an ihnen, das Haar beinahe durchsichtig und mit den Wellen hin und her wogend. Wie dünne, silberweiße Algen oder äther i scher Lichtschein umrahmt es ihre Züge. Sie haben keine Augenbrauen und ke i ne Wimpern, dafür übergroße Augen, aus denen etwas Uraltes, Wissendes leuchtet. Ihre Lippen sind voll, aber totenbleich wie ihre Haut. Als eine der Gestalten, die ich für eine Frau halte, ihren Mund einen Spaltbreit öffnet, erblicke ich dunkelgrüne, spitze Zähne. Es dauert einen A u genblick, bis ich begreife, dass das, was ihre Zähne grün färbt, Algen sind, die sich um die nadelscharfen Spitzen schlingen. Auf ihren Körpern kl e ben Muscheln, ihre Schalen haben alle nur erdenklichen Fa r ben: irisierendes Blau und Violett, feuchtes Grün, rosig schimmerndes Weiß. Ich sehe, dass ihre Hände schmal, ihre Finger lang und ihre Nägel messerscharfe Scheren sind. Do r nen, Klauen wie Eisen oder Stahl.
Die Gestalten beginnen, mich einzukreisen und beobachten mich aus leeren Augen, die mich zu beneiden scheinen für e t was, das ich besitze und das sie für immer verloren haben – etwas, das ihnen bis in alle Ewigkeit verwehrt sein wird. Unter Wasser ist jede Bewegung unendlich langsam; als ich zurüc k weichen will, gelingt es mir nicht.
Da öffnet eine der Gestalten ihren Mund so weit, wie ich es keinem menschlichen Wesen zutrauen würde. Sie schreit einen hellen, markerschütternden Schrei, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt und mich vergessen macht, wer ich bin und was ich hier tue. Ich schwebe durch leuchtendes, schwer e loses Nichts, in dem es nichts gibt als flüsternde Stimmen aus spitzzähnigen Mündern, Gestalten wie Perlen, aber auch b e drohlich, unheimlich.
Schließlich gelingt es mir, meine Arme durch das Wasser zu bewegen. Ich schwimme nach oben, durchbreche die Oberfl ä che und atme die durchwärmte Luft ein. Es ist ein merkwürd i ges Gefühl, und erst jetzt fällt mir auf, dass ich mich eine ga n ze Weile unter Wasser aufgehalten habe, ohne auch
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