Léonide (German Edition)
du den Geschichten aus der Bibel Glauben schenkst.«
»Das tue ich auch nicht. Ich glaube an nichts. Nicht an die Welt, nicht an mich selbst, nicht einmal an dich.«
Frédéric starrt mich an, als hätte ich ihm eine Ohrfeige ve r passt. Er neigt den Kopf und reibt sich erschöpft übers G e sicht. Als er weiterspricht, klingt seine Stimme gedämpft.
» Das Böse hat keine Gestalt, die Unheil über die Welt bringt. Die Menschen wünschen sich das zwar, weil es auf diese Art und Weise einfacher ist, jemanden für ihr Unglück verantwor t lich zu machen, aber sie irren sich. Das Böse schläft in uns allen, und wenn wir nicht wachsam sind, wird es uns früher oder später übermannen. Das ist der eigentliche Teufel: dass sich die Schuld niemandem zuweisen lässt, sondern in uns a l len vermutet werden muss .«
Er macht eine Pause, nimmt die Hände vom Gesicht und legt sie auf die Bettdecke, nur wenige Zentimeter von meinen entfernt. Trotzdem wage ich es nicht, ihn zu berühren.
»Costantini ist kein Mensch und kein Teufel. Er eine unhei l volle Idee, die sich zuerst in Willems, dann in deinem Kopf eingenistet hat. Auf gewisse Weise ist er Willem – ein dunkler Teil von ihm, der ihn in den Wahnsinn getrieben hat und der dich nun nicht loslässt, wie es auch Willem nicht tut.«
»Du glaubst, Willem und Costantini sind ein und derselbe?«
Frédéric antwortet nicht. Was sagt er da? Glaubt er tatsäc h lich, die Erklärung für alles, was geschehen ist, lässt sich auf geistige Verwirrung und menschliche Abgründe reduzieren? Oder will er meine Gedanken lediglich von sich auf Wi l lem lenken? Kann es sein, dass er r echt hat, oder tappe ich in eine Falle, die jeden Augenblick zuschnappen wird?
»Die Krankheit liegt euch im Blut«, sagt Frédéric, ohne auf meine Frage einzugehen. »Ich habe mich mit deinem Vater in Verbindung gesetzt, ihm von deinem Zustand berichtet. Ich wusste mir nicht anders zu helfen«, fügt er hinzu, als er me i nen Blick bemerkt. »Halluzinationen, Nervenzusammenbr ü che, Selbstmorde … sie bestimmen seit vielen Generationen eure Familie.«
Ich spüre, wie sich ein Teil von mir von meinem Körper a b spaltet und wie ein unbeteiligter Zuschauer auf die Szenerie hinabschaut. Das leichenblasse Mädchen auf dem Bett, dunkle Ringe unter den Augen, die Lippen spröde und blutig, die Hände fahrig. Daneben der Mann, auf der Bettkante sitzend, groß und dunkel, die Schultern nach vorn gebeugt.
Also war alles umsonst? Es gibt keinen bösartigen Alchimi s ten, der mir Körper und Seele stehlen will? Costantini ist zwar ein Halbabschneider und Betrüger, aber kein Teufel, kein Mörder, keine nichtmenschliche Instanz?
Da schiebt sich eine dunkle Nebelwand vor meine Wah r nehmung, und ich blicke in zwei rote Augen, die Iris schwarz und katzenhaft, so tief und allumfassend, dass ich den Blick nicht von ihnen wenden kann. Obwohl ich das Augenpaar noch nie gesehen habe, weiß ich, dass es nur ihm gehören kann. Er ist zurückgekehrt und straft Frédérics Worte L ü gen. Frédéric hat gesagt, dass es keine Rolle spielt, ob Costa n tini existiert oder nicht, dass es vielmehr darum geht, dass ich mich gegen seinen schädlichen Einfluss wehre. Das aber stimmt nicht, denn ganz gleich, wie sehr ich kämpfe und um mich schlage, er existiert – ob nun in Wirklichkeit oder in me i nem Kopf, spielt keine Rolle. Von Bedeutung ist nur der Schmerz, den er mir bereitet – schneidend und stechend, ze r fetzend und verstümmelnd.
Ich spüre Frédérics Hände auf mir, spüre, wie das Fieber mich packt und in Licht und Dunkelheit taucht. In meinem Kopf erklingen das Schäumen des Meeres, die Rufe über den Wellen schwebender Möwen, die Gesprächsfetzen der Me n schen, die sich auf den Boulevards tummeln. Cassis . Wie tra u rig, dass es so enden muss …
Dann schließe ich die Augen, und um mich herum zerfließt die Zeit und zerspringt das Licht.
Die Nacht ist still und wie verzaubert. Über Cassis leuchten Mond und Sterne und tauchen die Kammer mit dem sauber polierten Dielenboden in milchiges Licht. Ich liege neben Frédéric, der bereits eingeschlafen ist.
Obwohl es mir wieder besser geht, kann ich nicht schlafen. Seit Stunden wälze ich mich unter den klammen Laken hin und her, die Augen weit geöffnet. Vor ihnen schweben nebe l hafte Gestalten und Gesichter, ich höre Stimmen, wie ich sie nie zuvor gehört habe, weiße Hände ziehen an meinen Haaren und den Laken.
Du brauchst keine Angst zu haben.
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