Léonide (German Edition)
platziere die Spitze der Scherbe über meinem rechten Handgelenk. Ich höre so vieles: die Schreie von Möwen; das Rauschen und Schäumen des Wassers, das sich an den Klippen bricht, die wie steingraue Zyklopen in den Himmel ragen; die Gespräche der Menschen, die sich in den Cafés tummeln und sich dem Rausch der Grünen Fee hingeben. Ich spüre ihre Ängste und Hoffnungen, als wären sie lebendige Wesen, die wie Vögel durch die Nacht schweben und mir ihre Geheimni s se zuflü s tern. Als wären sie meine eigenen. Ich schmecke ihrer Lust und Hingabe wie schweren Rotwein auf der Zunge. Me i ne Empfindungen sind so klar und unverwischt, als erwachte ich aus tagelangem Tiefschlaf. Selbst die Körper der Ratten, Fledermäuse, Hunde und Katzen in der Umgebung kann ich spüren, und ich höre ihre leisen Rufe, die von allen anderen unbeachtet in der Finsternis verklingen.
Ich bin bereit. Wenn es nicht dieser Moment ist, wird es ein anderer sein, aber in diesem Augenblick fühle ich mich so frei, wie ich mich schon lange nicht mehr gefühlt habe. Frei und ohne Angst.
Hinter mir höre ich ein Knarren. Ich hebe die Hand mit der Scherbe, lasse sie auf mein rechtes Handgelenk hinabsausen. Ein rasender Schmerz, ein Schrei, das Bersten von Erinneru n gen, Gerüchen und Geschmäckern in meinem Mund. Wieder hebe ich die Hand.
»Körper, s o viele saftige, lebendige Körper … Arme, Be i ne, Haar und Augen voller Leben! Er braucht sie, meine A u gen, mein Leben, mein Herz! Große, runde, leere Augen! Und j e des davon eine Seele!«
Ich setze die Spitze der Scherbe auf mein Augenlid. Dann plötzlich eine warme Hand, die mein Handgelenk umspannt, die Scherbe an sich reißt und den Augenblick durchschneidet. Mein verletztes Handgelenk pulsiert, das Blut, das über me i nen Arm rinnt, ist noch warm.
Du enttäuschst mich, Léonide.
Ich weiß , flüstere ich in Gedanken und spüre, wie mir übel wird und ich mich erbreche, ehe das schwarze Flimmern vor meinen Augen mich zusammensacken lässt. Frédéric fängt mich auf, ehe ich mit dem Kopf voran vom Schemel auf die Holzdielen falle. Mir ist kalt geworden, so kalt.
»Léo! O h Gott, was tust du … «
Ich warte darauf, dass er mich entsetzt wieder loslässt, doch das tut er nicht. Stattdessen spüre ich, wie einer seiner Arme meinen Rücken umspannt, während der andere sich unter meine Kniekehlen schiebt. Er hebt mich hoch und trägt mich zum Bett, wo er mich auf die Laken legt. Ehe mir die Sinne schwinden, höre ich, wie er wie aus weiter Ferne mit sich selbst spricht.
» … schläft ein … Betäubung wird nicht nötig sein … «
Seine Stimme hat einen kontrollierten Klang angenommen, dem keine Gefühle anzuhören sind. Die Stimme des Arztes , de n ke ich, während sich sein Gesicht ernst und ko n zentriert über meinem bewegt. Das Nervöse und Fahrige, das sonst so ch a rakteristisch für ihn ist, ist verschwunden.
Dann sinkt mein Körper durch Laken, Kissen und Matratze in die Tiefe, wo er lange Zeit zwischen Schlaf und Tod schwebt.
Als ich wieder aufwache, befinde ich mich nicht mehr dort, wo ich sein sollte. Etwas hat sich verändert. Ich liege nicht mehr in meinem Bett, sondern in warmem, weißem Sand. Die Holzdielen und das kühle Mauerwerk um mich herum sind verschwunden. Ich habe keine Schmerzen. Da ist kein Blut auf meinen Händen, Armgelenken und dem Hemd, das ich trage. Über mir erklingen helle, euphorische Schreie – die Schreie von Möwen –, vor mir rauscht die See mit ihrem sturmgrauen und algengrünen Wasser, tobend, rasend, schäumend vor Wut. Der Sand unter meinen Händen ist fein wie Staub, der Hi m mel von einem tiefen Blau wie ein eingefärbtes, durch die Luft flatterndes Seidenband. Wolken ziehen wie weiße Fetzen über den Himmel, und mir dringen die Gerüche von Salz, Zeder n holz und Treibholzfeuer in die Nase.
Als ich aufstehe, um den Sand von meinen Kleidern zu klo p fen, höre ich eine leise Stimme. Ich kenne sie, seit ich klein bin und denken kann – die Stimme meines Bruders, Willems Stimme. Ich drehe den Kopf in ihre Richtung, und da steht er, eine Gestalt in der Ferne, die Hosen hochgekrempelt und bis zu den Knien im schäumenden Wasser stehend. Sein rotblo n des Haar steht widerspenstig in alle Richtungen ab, sein G e sicht ist so braun, wie ich es seit jeher kenne, aus seinem G e sicht leuchten zwei blaugrüne Augen. Er ist unrasiert, trägt schmutzige Kleidung. Um seine Lippen spielt ein leises L ä cheln. Ich habe ihn so
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