Léonide (German Edition)
ich ja nicht.« Ich lasse meinen Kopf auf seine Brust sinken. »Ich will nur … « Ich blicke auf. »Lass mich mit dir gehen.«
Willem starrt mich an. »Nein. Auf dich wartet die Welt der Lebenden. Deine Zeit, hinüberzugehen, ist noch nicht g e kommen. Du kannst – darfst – mich nicht begleiten.«
Ich spüre noch, wie ich an Willem gelehnt in mir zusamme n sinke, dann lassen die Tränen das Bild verschwimmen, und ich sehe und spüre nichts mehr.
Die nächsten Tage verbringe ich in einem Dämmerzustand, in dem ich nicht weiß, ob ich wache oder schlafe, noch lebe oder bereits tot bin. Nur am Rande meines Bewusstseins b e komme ich mit, dass Frédéric meine Wunden mit mehreren Stichen näht und mit Mullstoff verbindet. Wenn ich in einen neuerlichen Zustand fiebriger Hysterie verfalle, flößt er mir eine bittere Medizin ein, die meine Zunge betäubt und mich schläfrig macht. Er sitzt stundenlang an meinem Bett, be o bachtet meine Atemzüge und weicht nur von meiner Seite, um meine Medizin zu mischen oder mit dem Wirt zu sprechen. Von alldem bekomme ich nur Bruchstücke mit, doch ich spüre Frédérics Angst wie Stiche am eigenen Leib, diese Furcht d a vor, ich könnte mir erneut etwas antun.
Ich habe Albträume, doch sie sind nicht so schlimm wie meine Angst vor dem, was nun aus mir werden wird. Ich habe bereits einen ersten Schritt Richtung Abgrund getan und weiß, dass früher oder später weitere folgen werden. Oder nicht? Ist es vielleicht so, dass mein – Costantinis? – Versuch, mir das Leben zu nehmen, der letzte Schritt auf dem Weg zu diesem Abgrund gewesen ist? Habe ich nicht bereits zuvor viele, viele Schritte auf ebendiesem Weg getan?
Auch mein Traum geht mir nicht mehr aus dem Kopf. I m mer wieder denke ich voller Scham daran, dass ich Willem verwehrt habe, die Grenze zum Totenreich zu überschreiten. Ich fürchte, dass die Begegnung mehr war als ein bloßer Traum und ich Willem das Hinübergehen unmöglich gemacht habe. Ich werde seine Worte nicht los: Costantini ist der Name, den ich meinen eigenen Dämonen gegeben habe. Ich bin ihnen erlegen wie viele andere vor mir. Ich habe lange gewartet, ich musste sicherstellen, dass es dir gut geht. Du bist in guten Händen. Deine Zeit, hinüberzugehen, ist noch nicht gekommen. Du kannst – darfst – mich nicht begleiten.
Willems Worte haben Frédérics geähnelt .
Das Böse ist ein Geist, der in uns allen lebt. Es gibt keinen Teufel, der uns verfolgt, um uns Schaden zuzufügen.
Was hat Frédéric gesagt?
Das Böse hat keine Gestalt. Es schläft in uns allen. Das ist der eigen t liche Teufel: dass sich die Schuld niemandem zuweisen lässt, sondern in uns allen vermutet werden muss.
Frédéric hat r echt behalten. Costantini ist keine B e drohung. Ich bin krank wie einst mein Bruder, wenn ich nicht auf mich achte, werde ich früher oder später wie er meinen inneren Dämonen erliegen. Das Wichtigste, was er gesagt hat, aber ist dies: Ich bin in guten Händen, in Frédérics Händen. Es ist für mich noch nicht an der Zeit, in die Welt der Toten hinüberz u gehen. Wem, wenn nicht Willem, soll ich in dieser Frage Gla u ben schenken? Es ist entschieden: Ob nun Traum oder Vision, ich werde tun, was mein Bruder mir gesagt hat. Ich schulde es ihm. Aber habe ich es noch in der Hand?
Die Tage verstreichen zäh, wie hinter einem Schleier aus Nebel und Schatten verborgen. Ich esse und trinke kaum e t was. Frédérics Sorge darüber ist nicht unbegründet: Ich werde dünner und dünner, meine Rippen stechen mittlerweile wie die spitzen Knochen eines Vogels hervor, meine Wangenknochen sind dunkle Hügel in kreideweißer Landschaft. Ich erreiche einen merkwürdigen Zustand, in dem ich gleichgültig und nachlässig werde – Phasen tiefster Gedankenverlorenheit, die hin und wieder von Wutanfällen und Hysterie abgelöst we r den. In diesen Phasen spüre ich nichts als Schmerz, Zorn, Hass.
Als ich zum ersten Mal seit Tagen wieder bei klarem Ve r stand bin und mein Fieber gesunken ist, ist das Erste, was ich bemerke, die Tatsache, dass mein Nachthemd wieder blüte n weiß und der Drudenfuß von meiner Stirn verschwunden ist. Fast ebenso überrascht registriere ich die weißen Binden um meine Handgelenke – das Einzige, was mich an das, was ich getan habe, erinnert. Mein Gesicht ist weiß, das Blut fortgew a schen, die Kratzer auf meinen Handflächen Vergangenheit.
Und doch werde ich nie wieder die sein, die ich früher ei n mal gewesen bin.
FÜNFTER
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