Léonide (German Edition)
nur einmal Atem zu holen. Es ist, als br ä uchte ich das nicht.
Mein Hemd hängt schwer und nass an meinem Körper, als ich mich nach Willem umschaue. Er steht noch immer reglos im Wasser, als wäre er ein Felsen, an dem sich die Wellen br e chen. Inzwischen bin ich ihm so nah, dass ich den Ausdruck in seinem Gesicht sehen kann: still, reglos, beinahe verträumt. Dennoch liegt etwas Ernstes, Besorgtes auf seinen Lippen und im Licht seiner blaugrünen Augen, das mich nachdenklich stimmt. Es ist das Fehlen von Gefühl, das Gefangensein in einer unsichtbaren Welt, die nur in der Fantasie existiert. Als ich nach meinem Bruder rufe, dauert es einige Augenblicke, bis sein Blick meinen gefunden hat und er mich wirklich wahrnimmt. Dann aber schleicht sich erneut ein Lächeln auf seine Züge, und ich spüre, wie sich ein harter Knoten in me i ner Brust löst.
»Was waren das für Wesen?«, frage ich und wate zu ihm.
Er nimmt meine Hand und streicht mit dem Daumen über ihre Innenfläche. Seine Haut fühlt sich rau und schwielig an. Sein Blick ist unergründlich.
»Es sind Tote, Léo. Hast du das nicht bemerkt? Wir befinden uns hier am Rande der Welten, zwischen der Welt der Lebe n den und dem ewigen Totenreich, ganz nah der Welt des Schl a fes. Sie warten darauf, hinübergehen zu können.«
»Aber was tust du dann hier? Du bist doch nicht tot, nicht wahr?«
Willem drückt meine Hand, sein Blick schweift wieder in die Ferne, als fürchtete er, mir in die Augen zu sehen, während er mir antwortet.
»Auch ich bin hier, um zu warten, Léo. Weißt du das denn nicht?«
Ein fremdartiger Ton bricht aus meiner Kehle, halb seu f zend, halb schluchzend. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts mehr, habe alles vergessen, was mir einmal etwas bedeutet hat.«
Willem schüttelt den Kopf. »Du darfst nicht vergessen. Niemals. Vergiss nichts davon … Versprichst du mir das? Dass du dich immer erinnern wirst?«
»Aber … an was? An was soll ich mich erinnern?«
»Daran, dass du lebst. Dass ich existiert und die Welt der Lebenden verlassen habe. Dass das Böse ein Geist ist, der in uns allen lebt, das Gute aber ein Wunder, das immer möglich ist. Dass es keinen Teufel gibt, der uns verfolgt, um uns Sch a den zuzufügen. Das Einzige, was uns verfolgt und umbringen kann, sind unsere eigenen Dämonen. Ich bin ihnen erlegen wie viele andere vor mir, Léo.«
»Was, wenn auch ich ihnen erliege?«
Er sieht mich lange und durchdringend an. »Das wirst du nicht. Versprichst du mir das?«
Ich nicke langsam, obwohl ich nicht weiß, ob ich das Ve r sprechen halten kann. Ich kann unmöglich sagen, was ich tun werde und was nicht, doch ich will ihn nicht enttäuschen, nie wieder die Trauer in seinen Augen sehen. Die Kontrolle über mein Leben, meine Freiheit, die Fähigkeit zu eigenen En t scheidungen habe ich längst verloren.
Eine Weile schweigen wir einvernehmlich. Schließlich frage ich ihn: »Dann war es also nicht Costantini, der dich in den Tod getrieben hat? Willst du mir sagen, du selbst warst es?«
»Costantini ist der Name, den ich meinen eigenen Dämonen gegeben habe.«
Als die Sonne hinter dem Horizont versinkt und die Wärme in der Luft einer dunklen Kühle weicht, nimmt Willem mein Gesicht zwischen seine Hände und küsst mich auf die Stirn. Es fühlt sich an, als hätte er mir ein Mal auf die Stirn g e brannt, das mich bis in alle Ewigkeit begleiten wird, ganz gleich, was geschieht. Dann flüstert er: »Ich muss gehen, Léo. Ich habe lange gewartet, ich musste sicherstellen, dass es dir gut geht. Du bist in guten Händen. Frédéric wird nach dir s e hen. Ich habe lange genug gewartet. Das Tor wird geöffnet. Lässt du mich gehen?«
Tränen treten in meine Augen. Ich weiß, dass ich einen Fe h ler begehe und schüttle dennoch den Kopf. »Ich kann nicht.« Mein Blick wandert zu dem weißen Lichtkegel, der am Rande des Horizonts erscheint wie ein Portal in der Luft. Plötzlich bemerke ich die weißen Gestalten, die darauf zuschweben, die Münder weit aufgerissen, um ihre Totenklage zu singen. Mit Grauen sehe ich, dass das Meer, in dem wir stehen, sich in ein Meer aus weißen Leibern und Bergen aus Leichen verwandelt hat.
Willem nimmt erneut meine Hände und drückt sie so fest, dass sie schmerzen. In seine Augen tritt ein abwesender, unr u higer Ausdruck.
»Ich warte schon so lange«, sagt er. »Ich bin kaum mehr als ein Schatten. Ich muss gehen, Léo. Ich kann nicht bis in alle Ewigkeit bei dir bleiben.«
»Das verlange
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