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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Haus verlassen habe, bevor er in mein Zimmer gegangen ist. Ich wollte weglaufen, konnte mich aber nicht rühren, meine Füße waren wie am Boden festgeschraubt. Ich stand da und starrte ihn an, er hing direkt vor mir. Ich rief nach Mama, tat alles, was man tun musste, um einen Ruf zu formen, aber es kam kein Laut aus meinem Mund.«
    Kaja beugte den Kopf nach vorn und streifte die Zigarette ab. Atmete zitternd ein.
    »An den Rest erinnere ich mich nur noch bruchstückhaft. Sie gaben mir Medikamente, zur Beruhigung. Als ich drei Tage später wieder zu mir kam, hatten sie ihn bereits beerdigt. Sie sagten, es wäre gut, dass mir das erspart geblieben wäre, die Belastung wäre möglicherweise zu groß gewesen. Ich wurde krank und verbrachte den größten Teil des Sommers mit Fieber im Bett. Ich hab mich nie von dem Gedanken lösen können, dass diese Beerdigung übereilt war. Als wäre die Art, wie er gestorben ist, etwas Schändliches. Findest du nicht?«
    »Hm. Du hast gesagt, er hat einen Zettel geschrieben?«
    Kaja blickte über den Fjord. »Er lag auf meinem Nachttisch. Er schrieb mir, er sei unglücklich in ein Mädchen verliebt, das er niemals haben könnte, und wolle nicht mehr leben. Und er hat uns um Verzeihung für den Schmerz gebeten, den er uns damit zufügte, und gesagt, er wisse, dass wir ihn lieben.«
    »Hm.«
    »Ich war völlig überrumpelt. Even hatte mir nie von einem Mädchen erzählt, dabei hat er mir sonst immer alles gesagt. Wäre Roar nicht gewesen …«
    »Roar?«
    »Ja. In dem Sommer hatte ich meinen ersten Freund. Er war unglaublich lieb und geduldig, hat mich fast jeden Tag besucht, als ich krank war und im Fieber von Even erzählt habe.«
    »Davon, was für ein überirdisch phantastischer Mensch er war.«
    »Du verstehst das.«
    Harry zuckte mit den Schultern. »Ich war auch nicht anders, als meine Mutter gestorben ist. Nur dass 0ystein nicht so geduldig war wie Roar. Er hat mich geradeheraus gefragt, ob ich eine neue Religion gründen wolle.«
    Kaja lachte leise und zog an der Zigarette. »Ich glaube, Roar hat auch irgendwann festgestellt, dass meine Erinnerung an Even alles und alle anderen verdrängte, ihn inklusive. Die Beziehung hat nicht lange gehalten.«
    »Hm. Aber Even blieb.«
    Sie nickte. »Hinter jeder Tür, die ich aufmachte.«
    »Das ist es, oder?«
    Sie nickte wieder. »Als ich aus dem Krankenhaus kam und wieder in mein Zimmer gehen wollte, konnte ich die Tür nicht aufmachen. Es ging nicht, ich war einfach nicht dazu in der Lage. Ich wusste ganz genau, dass er wieder dort hängen würde, wenn ich sie öffnete. Und dass es meine Schuld war.«
    »Es ist immer unsere Schuld, oder?«
    »Immer.«
    »Und niemand kann uns vom Gegenteil überzeugen, nicht einmal wir selbst.« Harry schnippte den Zigarettenstummel in die Dunkelheit und zündete sich eine neue an. Das Schiff unter ihnen hatte angelegt.
    Ein Windstoß heulte hohl und düster durch die Schießscharten. »Warum weinst du?«, fragte er leise.
    »Weil es meine Schuld
ist«,
flüsterte sie, während ihr Tränen über die Wangen liefen. »Das ist alles meine Schuld. Und du hast es die ganze Zeit gewusst, stimmt's?«
    Harry inhalierte. Nahm die Zigarette aus dem Mund und blies den Rauch in die Glut. »Nicht die ganze Zeit.«
    »Seit wann?«
    »Seit ich Björn Holms Gesicht im Türrahmen im Holmenveien gesehen habe. Björn ist ein hervorragender Kriminaltechniker, aber kein Schauspieler. Er war wirklich aufrichtig überrascht.«
    »Das war alles?«
    »Das war genug. Ich habe seinem Gesichtsausdruck angesehen, dass er keinen blassen Schimmer hatte, dass ich Leike auf der Spur war. Ergo konnte er es nicht auf meinem Computer gesehen und an Bellman weitergegeben haben. Und wenn nicht Holm der Maulwurf war, kam nur noch eine andere Person in Frage.«
    Sie nickte und wischte die Tränen weg. »Wieso hast du nichts gesagt? Nichts getan? Mir nicht den Kopf abgerissen?«
    »Und was hätte das genützt? Ich habe gedacht, dass du wohl einen guten Grund haben wirst.«
    Sie schüttelte den Kopf und ließ den Tränen freien Lauf.
    »Ich weiß ja nicht, was er dir versprochen hat«, sagte Harry. »Ich vermute mal, eine Topposition im neuen, allmächtigen Kriminalamt. Und dass ich recht hatte, als ich meinte, dass der Typ, an den du dein Herz gehängt hast, verheiratet ist und sagt, dass er seine Frau und die Kinder für dich verlassen will, es aber niemals tun wird.«
    Sie schluchzte leise, mit vornüberhängendem Kopf, als wäre er ihr zu

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