Leopard
ungeschminkt und lächelte müde. Der Mann saß mit verkniffenem Mund und strenger Miene da. Er hatte den ernsten, verschlossenen Gesichtsausdruck eines introvertierten norwegischen Mannes, der ein dunkles Geheimnis hatte. Aber eigentlich war es der Junge in der Mitte, der Harrys Aufmerksamkeit auf sich zog. Er ähnelte seiner Mutter, hatte ihr breites, offenes Lächeln, und sein Blick strahlte eine sanfte Schönheit aus. Aber er ähnelte nicht nur seiner Mutter. Die großen weißen Zähne …
Harry ging zum Ofen, weil ihm plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken lief. Dieser beißende Fleischgeruch … Er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, tief und ruhig durch die Nase zu atmen, aber ihm wurde trotzdem schlecht.
In diesem Augenblick trampelte Bellman mit einem breiten Grinsen ins Wohnzimmer. »Ich hoffe, Sie mögen Hirsch.«
Harry wurde wach und fragte sich, was ihn geweckt hatte. Hatte er etwas gehört? Oder war es das Fehlen von Geräuschen gewesen? Es war vollkommen still. Auch der Wind hatte sich gelegt. Er schlug die Wolldecke zur Seite, stand vom Sofa auf, ging zum Fenster und schaute nach draußen. Die Landschaft war wie verwandelt. Wo vor sechs Stunden noch eine harte, gnadenlose Einöde gewesen war, breitete sich die Gebirgslandschaft weich, mütterlich, fast schön, in magisches Mondlicht getaucht vor ihm aus. Erst einen Augenblick später bemerkte Harry, dass sein Blick auf Spuren im Schnee gerichtet war. Dann hatte er also doch ein Geräusch gehört. Es konnte alles Mögliche gewesen sein. Ein Vogel. Ein Tier. Er lauschte und hörte ein leises Schnarchen hinter einer der Schlafzimmertüren. Bellman war es also nicht gewesen. Die Fußspuren führten von der Hütte zum Vorratshaus. Oder vom Vorratshaus zur Hütte? Wahrscheinlich in beide Richtungen, es waren ziemlich viele. Oder stammten sie doch von Bellman, der vor sechs Stunden zwischen Hütte und Vorratskammer hin- und hergelaufen war? Wann hatte es zu schneien aufgehört? Harry stieg in seine Boots, trat ins Freie und blickte zum Klohäuschen hinüber. Dorthin führte keine Spur. Er kehrte dem Vorratshaus den Rücken zu, pinkelte gegen die Hüttenwand und fragte sich mit einem Mal, warum das eigentlich so war, warum pinkelten Männer immer
gegen
irgendetwas? Waren das die Überbleibsel eines Reviermarkierungsinstinktes? Oder … Harry schoss durch den Kopf, dass ihn gar nicht das Gebäude anzog, gegen das er gerade pinkelte, sondern das, dem er den Rücken zukehrte. Das Vorratshaus. Er fühlte sich beobachtet. Er knöpfte die Hose zu, drehte sich um und sah sich das Gebäude mit dem spitzen Giebel an. Dann setzte er sich in Bewegung und ging darauf zu. Als er an dem verschneiten Scooter vorbeikam, griff er nach dem Spaten. Eigentlich hatte er vorgehabt, direkt hineinzugehen, blieb dann aber vor der Steintreppe, die zu der niedrigen Tür führte, stehen. Lauschte. Nichts. Was war das? Da war niemand. Er stieg die Stufen hoch und wollte die Hand auf den Türgriff legen, aber sie gehorchte ihm nicht. Verdammt, was war denn los? Sein Herz hämmerte so, als wollte es den Brustkorb sprengen. Es tat weh. Er schwitzte, und sein Körper verweigerte sich seinen Befehlen. Nur ganz langsam wurde ihm bewusst, was los war. Er hatte eine Panikattacke. Seine Wut kam ihm schließlich zu Hilfe. Er trat mit voller Wucht gegen die Tür und stürmte ins Dunkel der Kammer. Es roch streng nach Fett, Rauch, Fleisch und geronnenem Blut. Dann nahm er eine Bewegung in dem dünnen Streifen Mondlicht wahr, der durch den Türspalt hereinfiel, ein Augenpaar funkelte ihn an. Harry schwang den Spaten. Und traf. Hörte das dumpfe Klatschen auf Fleisch, merkte, wie es nachgab. Die Tür ging ein Stück weiter auf, und der Lichtstreifen wurde breiter. Harry starrte entgeistert auf den erlegten Hirsch, der vor ihm hin und her schwang. Und auf die anderen Tierkörper. Er ließ den Spaten fallen, sank auf die Knie, und plötzlich kam alles hoch, alles auf einmal. Die eingedrückte Wand, die Schneemassen, die ihn lebendig begruben, die Panik, keine Luft mehr zu bekommen, das lange Ringen um Luft in purer, weißer Angst, als er auf die schwarzen Felsen zustürzte. So einsam. So verlassen von allen. Sein Vater lag im Respirator, im Transit. Rakel und Oleg waren Silhouetten im Gegenlicht eines Flugplatzes, ebenfalls im Transit. Harry wollte zurück. Zurück in die tropfende Höhle. Zwischen die soliden, feuchten Wände und auf die verschwitzte Matratze. Zurück zu dem
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