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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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sich wieder seiner Lektüre.
    Harry dachte nichts. Rein gar nichts. Sein Leben passierte auch nicht Revue, keine Gesichter von Menschen, denen er gerne gesagt hätte, dass er sie liebte, oder irgendein Licht, dem er entgegeneilen wollte. Möglicherweise war die Zeit dafür auch zu knapp, schließlich fiel er nur fünf Meter. Der Klettergurt straffte sich im Schritt und im Kreuz, aber durch das elastische Seil fiel das jähe Abbremsen verhältnismäßig sanft aus. Im nächsten Augenblick spürte er, dass es wieder aufwärtsging. Der Wind blies ihm Schnee ins Gesicht.
    »Verdammt, was war da los?«, fragte Harry atemlos, als er fünfzehn Minuten später schwankend in den Windböen am Rand des Abgrundes stand und das Seil vom Klettergurt löste.
    »Na, Schiss gehabt?« Bellman grinste.
    Statt das Seil wegzulegen, wickelte Harry es mehrmals um seine rechte Hand und versicherte sich, genügend Spiel zu haben, um auszuholen. Ein kurzer Uppercut gegen das Kinn. Das Seil würde dafür sorgen, dass seine Hand auch morgen noch zu gebrauchen war, nicht wie bei Björn Holm, da hatten seine Knöchel noch zwei Tage später wehgetan.
    Er machte einen Schritt auf Bellman zu. Sah den überraschten Gesichtsausdruck des Kollegen, als er das um Harrys Faust gewickelte Seil erblickte, sah ihn nach hinten ausweichen, stolpern, rückwärts in den Schnee fallen.
    »Nicht! Ich … ich musste nur erst einen Knoten in das Ende des Seils machen, damit es nicht durch die Seilklemme rutscht …«
    Harry ging weiter auf ihn zu, und Bellman, der gekrümmt im Schnee hockte, hielt schützend den Arm vors Gesicht.
    »Harry! Da … ich bin ausgerutscht … und der Wind …«
    Harry blieb stehen, sah Bellman verdutzt an. Dann stapfte er an dem zitternden Kriminaloberkommissar vorbei durchs Schneegestöber. Der eisige Wind drang durch alle Kleiderschichten, durch Haut, Fleisch, Muskeln, bis ins Mark. Harry griff sich einen Skistock, der am Scooter festgezurrt war, und suchte nach einem Stück Stoff, das er an die Spitze knoten konnte, fand aber nichts. Eines seiner Kleidungsstücke konnte er auf keinen Fall entbehren, so dass er zu guter Letzt den bloßen Stock in den Schnee steckte, um die Fundstelle zu markieren. Die Götter allein wussten, wie lange sie brauchen würden, wieder hierherzufinden. Harry drückte den elektrischen Startknopf. Fand den Schalter für die Scheinwerfer, schaltete sie ein. Sah, dass die Schneeflocken waagerecht durch die beiden Lichtkegel schössen und eine weiße, undurchdringliche Wand bildeten. Sie würden es niemals aus diesem Labyrinth bis nach Ustaoset schaffen.
KAPITEL 62
    Transit
    K im Erik Lokker war der jüngste Mitarbeiter in der Kriminaltechnik. Folglich bekam er häufig die kriminaltechnisch uninteressantesten Jobs zugeteilt. Wie zum Beispiel die Fahrt nach Drammen. Björn Holm hatte angedeutet, dass Bruun schwul war und gerne flirtete, aber Kim Erik sollte ja nur die Kleider abgeben, mehr nicht.
    Als die GPS-Dame verkündete, dass er sein Ziel erreicht habe, parkte er den Wagen vor einem älteren Mietshaus und spazierte ungehindert in die dritte Etage bis vor die Wohnungstür, auf der auf einem einfachen, mit zwei Tesastreifen festgeklebten Zettel stand: GEIR BRUUN/ADELE VETLESEN.
    Kim Erik musste zweimal klingeln, ehe er jemanden durch den Flur stapfen hörte.
    Die Tür schwang nach innen auf. Der Mann hatte sich ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Er war unglaublich weiß, und sein blanker Schädel glänzte feucht.
    »Geir Bruun? H… Hoffe, ich störe nicht«, sagte Kim Erik Lokker und streckte ihm die Plastiktüte entgegen.
    »Keine Gefahr, ich schieb bloß grad 'ne Nummer«, sagte Bruun mit ebender affektierten Stimme, die Björn Holm nachgeäfft hatte. »Was ist das?«
    »Die Kleider, die Sie uns mitgegeben haben. Die Skihose müssen wir noch bis auf weiteres behalten, fürchte ich.«
    »Sonst noch was?«
    Kim Erik hörte hinter Geir Bruun eine Tür aufgehen und eine definitiv weibliche Stimme zwitschern: »Was ist los, Liebling?«
    »Da will jemand was abgeben.«
    Eine Person tauchte hinter Geir auf. Im Gegensatz zu Geir hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, sich in ein Handtuch zu wickeln, und so konnte Kim Erik feststellen, dass es sich bei der kleinen Person um ein eindeutig weibliches Wesen handelte.
    »Hi, hallo«, zwitscherte sie über Geir Bruuns Schulter. »Wenn sonst nichts mehr anliegt, würde ich ihn gerne wiederhaben.« Sie hob ihren anmutig kleinen Fuß und trat zu. Die Glasscheibe in

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