Leopard
war allein, frei schwebend zwischen weißen Schneeflocken und schwarzen Felswänden.
Schließlich lehnte er sich zur Seite und schaute nach unten. Zwanzig Meter unter ihm ragten schwarze Felszacken aus dem Schnee. Eine steile Geröllhalde. Und mitten in dem Schwarz und Weiß: etwas Gelbes.
»Ich sehe den Scooter!«, rief Harry nach oben. Das Echo hallte zwischen den Felswänden wider. Die Maschine lag auf dem Kopf, die Skikufen zeigten nach oben. Wenn er selbst und das Seil nicht allzu stark vom Wind bewegt wurden, befand sich der Scooter nur knapp drei Meter von ihm weg. Über siebzig Meter tief. Der Scooter musste mit ungewöhnlich niedrigem Tempo über die Kante gefahren sein.
Das Seil straffte sich abrupt. »Weiter runter!«, rief Harry.
Die hallende Antwort tönte wie von einer Kanzel: »Das Seil ist zu Ende.«
Harry starrte zu dem Scooter. Auf der linken Seite ragte etwas heraus. Ein nackter Arm. Schwarz, aufgedunsen, wie eine Wurst, die zu lange auf dem Grill gelegen hatte. Eine weiße Hand auf schwarzem Stein. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Offene Handfläche der rechten Hand. Die Finger. Gekrümmt. Knotig. Harrys Hirn spulte zurück. Was hatte Tony Leike über sein Leiden gesagt? Nicht ansteckend, nur erblich. Gicht.
Harry schaute auf die Uhr. Ermittlerreflex. Zeitpunkt des Leichenfundes: 17.54 Uhr. Die Dunkelheit senkte sich zwischen den Felswänden auf die Geröllhalde. »Hoch!«, rief Harry. Nichts tat sich. »Bellman?« Keine Antwort.
Ein Windstoß brachte Harry an seinem Seil zum Trudeln. Schwarze Felsen. Zwanzig Meter. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, begann sein Herz wie wild zu hämmern. Er umschloss automatisch mit beiden Händen das Seil fester, als wollte er sich versichern, dass es noch da war. Kaja. Bellman wusste es.
Harry holte dreimal tief Luft, bevor er erneut rief:
»Es wird dunkel, der Wind frischt auf, und ich frier mir die Eier ab, Bellman. Höchste Zeit, ins Warme zu kommen!«
Immer noch keine Antwort. Harry schloss die Augen. Hatte er Angst? Angst, dass ihn ein scheinbar rational denkender Kollege aus einer spontanen Eingebung heraus umbrachte, weil die Umstände dafür mit einem Mal günstig waren? Verdammt, ja, er hatte Angst. Und glaubte ganz und gar nicht an eine spontane Eingebung. Es war kein Zufall, dass Bellman als Einziger zurückgeblieben war, um mit Harry in diese Einöde zu fahren. Oder? Er atmete ein und aus. Es wäre kein Problem für Bellman, es wie einen Unfall aussehen zu lassen. Er brauchte nur nach unten klettern, die Gurte und das Seil verschwinden lassen und behaupten, Harry wäre im dichten Schneetreiben über die Kante des Abgrundes getreten. Sein Hals war trocken. Das durfte alles nicht wahr sein. Er hatte sich doch nicht aus dieser verfluchten Lawine ausgegraben, um zwölf Stunden später in einen Abgrund gestoßen zu werden. Von einem Polizisten. Verdammt noch mal, das war doch …
Die Gurte gaben nach. Er fiel. Ultrarapid.
»Gerüchten zufolge hat Bellman einen Kollegen misshandelt«, sagte Gjendem. »Nur weil der auf der Weihnachtsfeier der Polizei ein paarmal zu oft mit seiner Frau getanzt hatte. Der Typ hatte einen gebrochenen Kiefer und einen Schädelbruch und wollte ihn anzeigen, ihm fehlten aber Beweise, weil der Schläger eine Sturmhaube getragen hatte. Es wussten aber alle, dass es Bellman gewesen war. Er hatte damals einen ganzen Berg Scherereien und bewarb sich bei Europol, um aus der Schusslinie rauszukommen.«
»Glauben Sie, dass an diesen Gerüchten etwas dran ist, Gjendem?«
Roger zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall kann man daraus schließen, dass Bellman eine gewisse … äh, Toleranz gegenüber dieser Art von Entgleisung hegt. Wir sehen uns gerade im Zusammenhang mit der Lawine bei der Hävasshütte die Hintergrundgeschichte Jussi Kolkkas genauer an. Er hat während eines Verhörs einen Vergewaltiger verprügelt. Und Truls Berntsen, Bellmans Sidekick, ist auch nicht unbedingt ein Musterknabe.«
»Gut. Ich möchte, dass Sie sich bei dem Duell zwischen Kriminalamt und Morddezernat um die Verantwortung für die Mordermittlungen kümmern. Werfen Sie ein paar Brandfackeln aus. Schreiben Sie meinetwegen etwas über psychopathischen Führungsstil. Das wäre alles. Dann wollen wir mal abwarten, wie der Justizminister reagiert.«
Wortlos und ohne jede das Gespräch abschließende Geste setzte Bent Nordbo sich die frischgeputzten Glasbausteine auf die Nase, faltete die Zeitung auseinander und widmete
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