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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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seines Kollegen etwas, das er noch nie wahrgenommen hatte. Ein Zittern. Das Zittern eines aufgewühlten Mannes. Eines trauernden Mannes. Aber sein Gesicht war wie immer unbewegt und verschlossen. Versteinert.
    »Wahnsinn, dann ist es also wahr«, sagte der Hundeführer. »Dann hat sie sich wirklich aus Trauer um ihren Sohn in den Abgrund gestürzt.«
    »Davon würde ich nicht ausgehen«, sagte Krongli. Die beiden Männer sahen ihn an. Sein kleiner Finger steckte in einem kreisrunden Loch in der Stirn des Schädels.
    »Ist das … ein Einschussloch?«, fragte der Hundeführer.
    »Ja«, sagte Stille und betastete die Rückseite des Schädels. »Und da es kein Austrittsloch gibt, nehme ich an, dass wir die Kugel im Schädel finden.«
    »Wollen wir wetten, dass die Kugel aus Utmos Gewehr stammt?«, sagte Krongli.
    »Wahnsinn«, wiederholte der Hundeführer. »Wollt ihr damit sagen, dass er seine Frau selbst umgebracht hat? Geht das denn? Man tötet doch keinen Menschen, den man liebt? Nur weil er geglaubt hat, dass sie und ihr Junge … Verdammt.«
    »Achtzehn Jahre«, sagte Stille und erhob sich stöhnend. »Noch sieben Jahre, und der Mord wäre verjährt gewesen. So was nennt man wohl Ironie des Schicksals. Da wartest du Jahr um Jahr, in ständiger Angst, entlarvt zu werden. Und dann, wenn die Freiheit in fast greifbarer Nähe ist – bumm! –, wirst du selber umgebracht und landest auf derselben Geröllhalde.«
    Krongli schloss die Augen und dachte, dass es sehr wohl möglich war, einen Menschen zu töten, den man liebt. Sehr wohl. Und nein, frei wird man niemals sein. Niemals. Er wollte sich nie wieder in diese Tiefen begeben.
    Johan Krohn liebte das Rampenlicht. Ohne diese Eigenschaft hätte er es nie zu einem der gefragtesten Strafverteidiger des Landes gebracht. Er hatte keine Sekunde gezögert, Sigurd Altmans Verteidigung zu übernehmen, die Verteidigung des Kavaliers, und wusste, dass er dadurch mehr im Rampenlicht stehen würde als je zuvor in seiner bislang schon bemerkenswerten Karriere. Das Ziel, seinen Vater als jüngsten Rechtsanwalt des Obersten Gerichtshofs aller Zeiten zu übertreffen, hatte er erreicht. Als Straf Verteidiger galt er bereits mit Ende zwanzig als der neue Stern am Anwaltshimmel, als Wunderknabe. Die ungewohnte Aufmerksamkeit war ihm zu Kopf gestiegen. Als Kind hatte er als Streber gegolten, als unbeliebter Klassenprimus, der immer zu eifrig mit der Hand in der Luft wedelte, immer ein bisschen zu aufdringlich gewesen war und immer als Letzter erfahren hatte, wo am Samstag die Feste stattfanden – wenn man ihn denn überhaupt informiert hatte. Inzwischen kicherten junge Assistentinnen und Gerichtsreferendarinnen und erröteten, wenn er ihnen Komplimente machte oder sie am Abend zu einem Arbeitsessen einlud. Und umgekehrt hagelte es nur so Einladungen für Vorträge und Radio- oder Fernsehdebatten, und zu der einen oder anderen Premiere, die seine Frau so schätzte. All diese Dinge hatten in den letzten Jahren aber anscheinend zu viel seiner Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, denn er konnte einen gewissen Abwärtstrend in der Anzahl der gewonnenen Fälle, der Anzahl großer Medienauftritte und der Anzahl neuer Klienten nicht verleugnen. Es war nicht so dramatisch, dass er ernsthaft um seinen Ruf fürchten musste, aber doch so, dass ihm Sigurd Altmans Fall gerade recht kam. Er brauchte etwas Anspruchsvolles, womit er sich profilieren konnte, um dorthin zurückzukehren, wo er hingehörte: an die Spitze.
    Darum saß Johan Krohn ganz ruhig da und hörte dem mageren Mann mit der runden Brille aufmerksam zu. Hörte Sigurd Altman die unglaublichste Geschichte erzählen, die ihm jemals zu Ohren gekommen war, die er ihm aber
glaubte.
Johan Krohn sah sich bereits im Gerichtssaal, der glänzende Rhetoriker, Agitator, Manipulator, der niemals die Gerechtigkeit aus den Augen verlor, zur Freude der Geschworenen und der Richter. Auch deshalb war er enttäuscht, als ihm klar wurde, welchen Plan Sigurd Altman verfolgte. Aber nachdem er sich selbst an die wiederholten Ermahnungen seines Vaters erinnert hatte, dass der Anwalt für den Klienten da war und nicht umgekehrt, hatte er das Mandat angenommen. Denn Johan Krohn war im Grunde seines Herzens kein schlechter Mensch.
    Als Krohn das Osloer Bezirksgefängnis verließ, in das Sigurd Altman im Laufe des Tages überführt worden war, erkannte er das neue Potential in seinem Mandat, das einzigartig war. Als er in seinem Büro eintraf, rief er als Erstes

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