Leopard
noch Luft. Die ganze Hütte ist unter dem Schnee begraben. Deshalb willst du ihn auch nicht beatmen, nicht wahr. Für noch einen mehr reicht die Luft nicht. Harry …«
Harry war aufgestanden und hatte versucht, sich durch den Kamin nach oben zu schieben, aber es war zu eng, seine Schultern steckten fest. Er hockte sich wieder hin, brach beide Enden des Skistocks ab, so dass er nur noch ein hohles Metallrohr war, streckte ihn im Kamin nach oben und stand wieder auf, dieses Mal mit nach oben gestreckten Armen. Das ging einigermaßen. Dann meldete sich die Klaustrophobie, verschwand aber gleich wieder, als begriffe sein Körper, dass irrationale Phobien in dieser Situation ein unzulässiger Luxus waren. Er presste den Rücken gegen eine Seite des Kamins und schob sich mit den Beinen nach oben. Seine Oberschenkelmuskulatur brannte, er atmete schwer, und wieder drehte sich alles. Trotzdem machte er weiter, Stück für Stück, drückte sich hoch … Es wurde wärmer, je höher er kam, und Harry wusste, was das bedeutete. Die warme Luft fand keinen Weg nach draußen. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass sie längst an Kohlenmonoxidvergiftung gestorben wären, wenn der Kamin gebrannt hätte, als die Lawine kam. Sie hatten wirklich Glück im Unglück gehabt. Falls diese Lawine tatsächlich ein Unglück gewesen war. Das Dröhnen, das sie gehört hatten …
Er stieß mit dem Stock gegen etwas. Er kletterte weiter, tastete sich mit der freien Hand vor und erreichte ein Eisengitter. So ein Ding, das sie oben auf den Schornstein setzten, damit keine Eichhörnchen und anderen Tiere in die Hütte kamen. Er fuhr mit den Fingern am Rand entlang. Einzementiert. Mist!
Kajas schwache Stimme erreichte ihn. »Mir wird schwindelig, Harry!«
»Du musst tief einatmen.«
Er schob den Stab durch das feinmaschige Gitter.
Die andere Seite war schneefrei!
Er spürte die Milchsäure kaum mehr, die in seinen Muskeln brannte, sondern schob den Stock hektisch weiter. Umso größer war die Enttäuschung, als er erneut gegen etwas Hartes stieß. Die Schornsteinabdeckung, dieses schwarze Metalldach, das Regen und Schnee abhielt. Er tastete sich mit dem Stock weiter, bis es ihm gelang, ihn schräg an der Abdeckung vorbeizuschieben. Hier war der Schnee massiv und dicht gepackt, härter als in der Hütte. Vielleicht kam es ihm aber auch nur so vor, weil der Schnee auch in den hohlen Stab vordrang. Mit jedem Zentimeter, den er den Skistock weiter hochschob, hoffte er, auf geringeren Widerstand zu stoßen und endlich durch die Schneedecke zu brechen. Dann könnte er den Schnee aus dem riesigen Strohhalm blasen und frische Luft bekommen, frische, lebenspendende Luft, bevor er Kaja nach oben bugsierte und auch ihr diese Injektion des Lebens schenkte. Aber der Durchbruch kam nicht. Er hatte das untere Ende des Skistocks bis an den Rand des Gitters geschoben, ohne dass er etwas erreicht hatte. Trotzdem gab er nicht auf, saugte mit aller Kraft und bekam trockenen, kalten Schnee in den Hals, bis sich nichts mehr rührte. Er konnte die Muskelspannung nicht mehr aufrechterhalten und rutschte nach unten. Schrie, streckte Beine und Arme aus, spürte, wie die Haut von den Händen abriss, rutschte aber dennoch weiter. Er traf Kaja mit beiden Beinen.
»Alles okay?«, fragte Harry und richtete sich auf.
»Alles in Ordnung«, sagte Kaja und stöhnte leise. »Und du? Schlechte Neuigkeiten?«
»Ja«, sagte Harry und setzte sich neben sie.
»Was? Bist du immer noch nicht in mich verliebt?«
Harry lachte leise und zog sie an sich: »Doch, jetzt bin ich verliebt.«
Er spürte warme Tränen auf ihrer Wange, als sie flüsterte. »Wollen wir dann heiraten?«
»Ja, das sollten wir«, sagte Harry und wusste, dass in diesem Moment das Gift in seinem Hirn gesprochen hatte.
Sie lachte leise. »Bis dass der Tod uns scheidet.«
Er spürte die Wärme ihres Körpers und etwas Hartes. Das war der Waffengürtel mit ihrer Dienstwaffe. Er ließ sie los und tastete sich zu Kolkka vor. Glaubte bereits die marmorne und steife Kälte in seinem Gesicht zu spüren. Er schob seine Hand am Hals des Toten entlang in den Schnee und über den Brustkorb weiter nach unten.
»Was machst du?«, murmelte sie schwach.
»Ich hole Jussis Pistole.«
Er hörte ihren Atem stocken. Spürte ihre Hand auf seinem Rücken, das unsichere Tasten, wie ein kleines Tier, das die Orientierung verloren hatte. »Nein«, flüsterte sie. »Nein, tu das nicht … nicht so … lass uns lieber einfach
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