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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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gebraucht. Genauer gesagt acht Minuten und achtzehn Sekunden. Er hatte die Zeit notiert. Er war Polizist.
    »Scheiße, der Abbruch ist mindestens einen Quadratkilometer groß«, hörte er jemanden hinter sich rufen und sah die dürftigen gelben Lichtkegel ihrer Taschenlampen über die Schneefläche huschen.
    Das Walkie-Talkie rauschte. »Der Helikopter ist in dreißig Minuten hier, sagt die Notrufzentrale. Over.«
    Zu lange, dachte Bellman. Nach einer halben Stunde waren die Überlebenschancen in einer Lawine eins zu drei. Und was sollten sie machen, wenn der Helikopter da war? Sollten sie mit ihren Sonden nach den Überresten einer Hütte suchen? »Danke, over and out .«
    Ærdal kam neben ihm zum Stehen. »Glück muss man haben! In Ål gibt es Lawinensuchhunde. Die werden grad nach Ustaoset gebracht. Der zuständige Polizist von Ustaoset, Krongli, ist nicht zu Hause, jedenfalls nimmt er das Telefon nicht ab, aber im Hotel gibt es einen, der einen Schneescooter hat und die Hunde hier rauffahren kann.« Er schlug die Arme um sich.
    Bellman starrte auf den Schnee unter ihnen. Irgendwo da unten war Kaja. »Wie oft gehen hier Lawinen ab?«
    »Alle zehn Jahre«, sagte Ærdal.
    Bellman wippte auf den Füßen. Milano dirigierte die anderen, die sich verteilten und den Schnee mit ihren Stöcken und Skiern perforierten.
    »Und die Lawinensuchhunde?«, fragte er.
    »Vierzig Minuten.«
    Bellman nickte. Voller Gewissheit, dass auch die Lawinenhunde nichts bringen würden. Wenn sie eintrafen, war seit dem Lawinenabgang schon über eine Stunde vergangen.
    Die Überlebenschance läge bereits unter zehn Prozent, bevor sie überhaupt loslegen konnten. Nach anderthalb Stunden war sie praktisch gleich null.
     
    Die Reise hatte begonnen. Er fuhr Schneescooter. Dunkelheit und Licht schossen ihm entgegen, als hätte sich der diamantbestreute Himmel vor ihm aufgetan, um ihn willkommen zu heißen. Hinter ihm im Schnee stand der Mann, der Geist, und zielte durch das Zielfernrohr seines Gewehrs auf seinen verbrannten, verkohlten und von Blasen bedeckten Rücken. Keine Kugel konnte ihn jetzt noch einholen, er war frei, war auf dem Weg dorthin, wo er hingehörte, wo er immer schon hingehört hatte. An denselben Ort, an den sie geflohen war, auf derselben Route. Er war frei, und wenn er in der Lage gewesen wäre, Beine und Arme zu bewegen, hätte er sich im Sattel aufgestellt und das Gas aufgedreht, um noch schneller voranzukommen. Er jubelte, als er in den Sternenhimmel abhob.

KAPITEL 59
     
    Begräbnis
     
    H arry sank durch Schichten von Träumen, Erinnerungen und nicht zu Ende gedachten Gedanken. Alles war gut. Abgesehen von einer Stimme, die immer wieder den gleichen Satz sagte, wieder und wieder. Die Stimme seines Vaters:
    »… bis du irgendwann so blutüberströmt warst, dass die Großen von sich aus aufgehört haben.«
    Er versuchte, den Satz auszublenden und eine der anderen Stimmen zu hören. Aber auch die gehörten Olav Hole:
    »Du hattest Angst im Dunkeln, gingst aber trotzdem hinein.«
    Verdammt, verdammt, verdammt.
    Harry öffnete die Augen. Versuchte sich in der eisigen Umklammerung des Schnees zu bewegen. Trat mit dem Fuß. Begann vor dem Netz zu graben. Bekam etwas mehr Platz. Seine Finger fanden den Rand des Funkenschutzes. Er durfte nicht sterben, Olav Hole musste vor ihm gehen, wenigstens das musste er als Vater doch wohl schaffen! Seine Hände arbeiteten nun, da er Platz hatte, wie Schaufeln. Er schob beide Hände hinter den Funkenschutz und zog daran. Da! Er bewegte sich etwas. Noch einmal zerrte er daran und spürte sie. Die Luft. Sie stank nach Asche, war abgestanden, aber eben doch – Luft. Ein bisschen. Er schob den Schnee weg. Streckte die Hände weiter vor und fand etwas, das sich wie Isopor anfühlte. Dann begriff er, dass es halbverbranntes Holz sein musste. Der Funkenschutz hatte dem Schnee standgehalten, der Kamin war frei! Er grub weiter.
    Einige Minuten später, vielleicht waren es auch nur Sekunden, lag er zusammengekrümmt in dem überdimensionalen Kamin, sog die Luft ein und hustete Asche.
    Dann wurde ihm bewusst, dass er bisher nur an eins gedacht hatte: an sich selbst.
    Er schob seinen Arm um die Ecke der Kaminwand, an der die Skier seines Vaters gelehnt hatten. Grub im Schnee herum, bis er fand, wonach er suchte. Einen der Skistöcke. Er legte die Hand um den Schneeteller und zog den glatten, leichten Metallstab zu sich in den Kamin. Dann drehte er ihn um, stellte den Stock zwischen seine Beine,

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