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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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klemmte die Skischuhe zusammen und riss den Stock aus dem Schneeteller. Jetzt hatte er einen knapp anderthalb Meter langen Speer.
    Kaja und Kolkka konnten nicht weit von ihm entfernt sein. Er stellte sich ein Koordinatennetz vor, wie es an einem Tatort benutzt wurde, um nach Spuren zu suchen, und begann zu stechen. Er arbeitete schnell und stieß mit großer Kraft und einkalkuliertem Risiko zu. Schlimmstenfalls traf er ein Auge oder den Hals, aber es war mehr als fraglich, dass die beiden überhaupt noch atmeten. Er suchte die Stelle links von dem Platz ab, an dem er selbst gelegen hatte, als er mit einem Mal einen federnden Widerstand unter dem Stock spürte. Als er ihn zurückziehen wollte, steckte er fest. Er lockerte den Griff und sah, dass der Stock von ihm weggezogen wurde. Jemand umklammerte die Spitze, um ihm zu signalisieren, dass er am Leben war! Harry zog den Stock zu sich – dieses Mal etwas fester –, aber der andere hielt mit verblüffender Kraft dagegen. Harry brauchte den Stock, beim Graben wäre er nur im Weg. Er schob seine Hand in die Griffschlaufe, doch selbst so brauchte er all seine Kraft, um ihn loszubekommen.
    Harry blieb liegen und fragte sich, warum er den Stab nicht längst beiseitegelegt und mit dem Graben begonnen hatte. Als es ihm einfiel, zögerte er eine Sekunde und begann erneut mit dem Stock den Schnee abzusuchen, dieses Mal weiter rechts. Beim vierten Stich bekam er Kontakt. Das gleiche federnde Gefühl. Magen? Er hielt den Stock locker in der Hand, um jede Bewegung zu spüren. Hob oder senkte sich die Bauchdecke? Atmete jemand, aber er spürte nichts.
    Die Entscheidung hätte ihm leichtfallen sollen. Es war weniger weit bis zum ersten Verschütteten, der obendrein ein Lebens zeichen von sich gegeben hatte. Rette, wen du retten kannst. Harry kniete bereits am Boden und grub wie ein Besessener – in Richtung des zuletzt gefundenen Körpers.
    Seine Finger waren gefühllos, als sie Kontakt bekamen. Mit dem Handrücken ertastete er Wolle. Ein Pullover. Der weiße Pullover. Er bekam eine Schulter zu fassen, schob weiteren Schnee beiseite, konnte einen Arm befreien und zog den leblosen Körper in den Tunnel, den er gegraben hatte. Ihre Haare fielen auf sein Gesicht, sie rochen noch immer nach Kaja. Es gelang ihm, ihren Kopf und den halben Oberkörper auf den Boden des Kamins zu ziehen, dann versuchte er ihren Puls zu fühlen, doch seine Fingerkuppen lagen wie Zement an ihrem Hals. Er hielt sein Gesicht vor ihre Nase, spürte aber keinen Luftzug. Dann öffnete er ihren Mund, überprüfte, dass die Zunge richtig lag, inhalierte und blies in ihren Mund. Richtete sich auf, um Luft zu bekommen, kämpfte gegen den Drang zu husten an, als er die Aschepartikel einatmete, und beatmete sie erneut. Ein drittes Mal. Er zählte; vier, fünf, sechs, sieben. Vor seinen Augen begann sich alles zu drehen, und er stellte sich vor, dass er vor dem Kamin in der Hütte in Lesja saß. Ein kleiner Junge blies in die Glut, um das Feuer anzufachen, und Vater lachte, als er schwindelig nach hinten taumelte, einer Ohnmacht nahe. Aber er musste weitermachen, wusste, dass die Chancen, sie ins Leben zurückzuholen, mit jeder Sekunde, die verstrich, geringer wurden.
    Als er sich nach unten beugte, um sie zum zwölften Mal zu beatmen, spürte er einen warmen Hauch in seinem Gesicht. Er hielt den Atem an, wartete, wagte kaum zu glauben, dass es stimmte. Der Luftzug verschwand. Um gleich darauf wiederzukommen. Sie atmete! Im selben Moment krümmte ihr Körper sich zusammen, und sie begann zu husten. Dann hörte er ihre leise Stimme: »Harry, bist du das?«
    »Ja.«
    »Wo … Ich kann nichts sehen.«
    »Das ist in Ordnung … wir sind im Kamin.«
    Pause.
    »Was machst du?«
    »Ich grabe nach Jussi.«
    Als Harry Kolkkas Kopf vor dem Kamin aus dem Schnee befreite, wusste er nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Nur dass es für Jussi Kolkka zu spät war. Er hatte ein Streichholz angerissen und die großen, leeren Augen des Finnen gesehen, bevor die Flamme gleich wieder erloschen war.
    »Er ist tot«, sagte Harry.
    »Kannst du nicht versuchen, ihn zu beatmen …?«
    »Nein«, sagte Harry.
    »Und jetzt?«, flüsterte Kaja schwach und kraftlos.
    »Wir müssen raus«, sagte Harry und fand ihre Hand. Drückte sie.
    »Können wir nicht einfach hier warten, bis sie uns finden?«
    »Nein«, sagte er.
    »Das Streichholz«, sagte sie.
    Harry antwortete nicht.
    »Das ist sofort wieder ausgegangen«, sagte Kaja. »Hier ist auch kaum

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