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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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her wand und an der klirrenden Kette ruckte, die unter dem Dach des Vorratshauses befestigt war.
    Er starrte in den gebrochenen Blick eines Hirsches, der an den Hinterbeinen neben ihm hing. Es sah aus, als wäre er mitten im Sprung mit dem Geweih voran eingefroren. Er hatte ihn gewildert. Mit demselben Gewehr, mit dem er einst sie getötet hatte.
    Dann hörte er das klagende Knirschen von Schritten im Schnee. Die Tür ging auf, Mondlicht fiel herein. Er war also wieder da. Der Geist. Merkwürdig nur, dass er sich erst jetzt, da er ihn verkehrt herum sah, sicher war.
    »Du bist es wirklich«, zischelte er. Es war ein seltsames Gefühl, ohne Schneidezähne zu sprechen. »Du bist es wirklich. Oder?«
    Der Mann ging um ihn herum, knotete seine auf dem Rücken zusammengebundenen Hände auf.
    »K… Kannst du mir verzeihen, mein Junge?«
    »Hast du Lust, eine Reise zu machen?«
    »Du hast sie alle umgebracht, oder?«
    »Ja«, sagte er. »Gehen wir.«
     
    Harry grub mit der rechten Hand. Auf die linke zu, die an ein Drahtnetz gedrückt war, von dem er nicht wusste, was es war. Ein Teil seines Gehirns teilte ihm mit, dass er gefangen war, dass er einen hoffnungslosen Kampf gegen die Sekunden kämpfte und jeder Atemzug ihn dem Tod näher brachte. Dass alles, was er tat, nur das Leiden verlängerte, das Unausweichliche hinaus zögerte. Ein anderer Teil konterte, dass er lieber verzweifelt als apathisch sterben wollte.
    Schließlich hatte er sich bis zu seiner linken Hand durchgegraben und strich mit den Fingern über das Drahtnetz. Stemmte beide Hände dagegen und versuchte es wegzuschieben, aber es ließ sich nicht verrücken. Das Atmen fiel ihm wieder schwerer, der Schnee begann glasig zu werden, sein Sarg würde bald fertig sein. Ein Schwindel kam und klang wieder ab. Höchstens eine Sekunde, aber er wusste, dass das die ersten Anzeichen waren, dass er vergiftete Luft atmete. Bald würde er schläfrig werden, und dann würde das Gehirn sich abschalten, Kammer für Kammer, wie ein Hotel auf dem Weg in die Nebensaison. In diesem Moment fühlte Harry etwas, das er so noch nie empfunden hatte, nicht einmal in seinen schrecklichsten Nächten im Chungking Mansion; überwältigende Einsamkeit. Nicht die Gewissheit des bevorstehenden Todes saugte den letzten Funken Willenskraft aus ihm heraus, sondern der Gedanke, hier zu sterben, ohne einen Menschen, ohne die, die er geliebt hatte, ohne seinen Vater, Søs, Oleg, Rakel …
    Die Schläfrigkeit setzte ein. Harry hörte zu graben auf. Obwohl er wusste, dass das seinen sicheren Tod bedeutete. Ein verführerischer, verlockender Tod, der ihn in seine Arme schloss. Wozu protestieren, sich zur Wehr setzen, warum sich für den Schmerz entscheiden, wenn er sich nur hinzugeben brauchte? Wieso anders entscheiden, als er es bisher immer getan hatte? Harry schloss die Augen.
    Halt.
    Das Drahtnetz.
    Das musste der Funkenschutz vor dem Kamin sein. Kamin. Schornstein. Gemauert. Wenn etwas der Lawine widerstanden hatte und wenn irgendwo keine Schneemassen eingedrungen waren, dann in den Schornstein.
    Harry drückte noch einmal gegen das Netz. Es rührte sich keinen Millimeter. Er kratzte mit den Fingernägeln über das Netz. Kraftlos, resigniert.
    Es war definitiv. Das war das Ende. Sein CO 2 -infiziertes Hirn ahnte dunkel die Logik dahinter, aber er akzeptierte all das. Hieß den süßen, warmen Schlaf willkommen. Die Betäubung. Freiheit.
    Seine Finger glitten über das Drahtnetz. Blieben an etwas Hartem, Solidem hängen. Skispitzen. Die Skier seines Vaters. Sie würden mit ihm in den Tod gehen. Die letzte steile Abfahrt gemeinsam machen.
     
    Mikael Bellman starrte auf das, was vor ihnen lag. Oder vielmehr das, was nicht mehr vor ihnen lag. Weil es nicht mehr da war. Die Hütte. Aus der Schneehöhle hatte sie ausgesehen wie die winzige Bleistiftzeichnung auf einem großen weißen Blatt Papier. Ein Donnern und ein fernes Grummeln hatten ihn geweckt. Als er endlich das Fernglas vor den Augen hatte, war wieder Stille eingekehrt gewesen bis auf ein fernes, verzögertes Echo, das vom Hallingskarvet zurückgeworfen wurde. Er hatte durchs Fernglas gestarrt, bis ihm die Augen tränten, es immer wieder über die weiße Fläche schweifen lassen. Es war, als hätte jemand das Papier mit einem Radiergummi bearbeitet. Keine Bleistiftzeichnung mehr, nur friedliches, jungfräuliches Weiß. Es war unfassbar. Die Hütte war einfach weg.
    Sie hatten die Skier untergeschnallt und acht Minuten bis zum Lawinenfeld

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