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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Grund war einfach: Er war nie eingeladen worden.
    Es kam vor, dass er wie in diesem Augenblick im Schutz der nachmittäglichen Dunkelheit zu dem Haus hinaufsah, um einen Blick auf sie zu erhaschen. Sie, die Unerreichbare, die niemand bekommen konnte. Niemand außer ihm, dem Prinzen, Mikael.
    Manchmal fragte er sich, ob Mikael es wusste und ihn deshalb nie einlud. Oder wusste sie Bescheid? Und gab Mikael, ohne es direkt auszusprechen, zu verstehen, dass dieser Beavis, mit dem er gemeinsam aufgewachsen war, privat vielleicht nicht der richtige Umgang war. Jedenfalls nicht mehr, da seine Karriere endlich in Fahrt gekommen war und es darauf ankam, in den richtigen sozialen Kreisen zu verkehren, die richtigen Menschen zu treffen und die richtigen Signale auszusenden. Da war es taktisch nicht klug, sich mit einem Gespenst aus der Vergangenheit zu umgeben, die Dinge in sich barg, die besser im Verborgenen blieben.
    Oh, er verstand das. Nicht aber, warum sie nicht begriff, dass er ihr niemals schaden würde. Im Gegenteil. Wer hatte sie und Mikael in all den Jahren beschützt? So war es. Er passte auf, war zur Stelle und räumte auf. Sorgte für ihr Glück. So war seine Liebe.
    An diesem Abend brannte dort oben hinter den Fenstern Licht. Feierten sie ein Fest? Aßen und lachten sie? Tranken sie Wein, den es im Mangleruder Vinmonopol nicht zu kaufen gab? Und redeten sie wieder in diesem neuen Tonfall? Verzauberte sie wieder alle mit ihrem Lächeln, mit ihren Augen, die so schön waren, dass es weh tat, wenn sie einen ansahen? Würde sie ihn häufiger ansehen, wenn er Geld hätte, reich wäre? War es das? War es so einfach?
    Er blieb noch eine Weile unten auf dem ausgesprengten Gelände stehen. Dann lief er nach Hause.
     
    Bjørn Holms Amazon legte sich im Kreisverkehr in Ryen majes tätisch in die Kurve.
    Ein Schild wies auf die Ausfahrt Manglerud hin.
    »Wohin fahren wir?«, fragte Sigurd Altman und stützte sich auf der Innenseite der Tür ab.
    »Wir fahren dorthin, wohin der Schneemann mich geschickt hat«, sagte Harry. »Weit zurück in die Vergangenheit.«
    Sie fuhren an der Ausfahrt vorbei.
    »Hier«, sagte Harry, und Bjørn bog ab.
    »Auf die E6?«
    » Yes , wir müssen nach Osten. Zum Lyseren. Kommt Ihnen das bekannt vor, Sigurd?«
    »Es ist schön da, aber warum …«
    »Weil die Geschichte da ihren Anfang hat«, sagte Harry. »Vor vielen Jahren vor einer Disco. Tony Leike, der Mann, dem der Finger gehörte, den ich Ihnen heute Morgen auf Fotos gezeigt habe, steht am Waldrand und küsst Mia, die Tochter des Dorfpolizisten Skai. Ole, der in Mia verliebt ist, sucht draußen nach ihr und entdeckt die beiden. Wütend und frustriert stürzt er sich auf diesen Eindringling, den Charmeur Tony. Doch da zeigt Tony sich plötzlich von einer ganz anderen Seite. Verschwunden ist der lächelnde, charmante Frauenschwarm, den alle mögen. Es zeigt sich ein Raubtier. Und wie alle Raubtiere, die sich bedroht fühlen, greift er mit einer Aggressivität und Brutalität an, die sowohl Ole als auch Mia und all die anderen, die schließlich hinzukommen, paralysiert. Er ist im Blutrausch, zückt ein Messer und schneidet Ole die halbe Zunge heraus, bevor man ihn zurückhalten kann. Und obgleich Ole eigentlich unschuldig ist, trifft ihn die Scham. Die Scham darüber, dass seine unerfüllte Liebe zur Schau gestellt und er bei dem rituellen Paarungskampf der norwegischen Provinz gedemütigt wurde. Und dass sein Sprachfehler auf immer und ewig diese Niederlage bezeugen wird. Also flieht er und zieht weg. Können Sie mir folgen?«
    Altman nickt.
    »Viele Jahre vergehen. Ole hat an einem neuen Ort Fuß gefasst, er hat eine Arbeit, für die man ihn wegen seiner Tüchtigkeit respektiert. Hat Freunde, nicht viele, aber genug. Das Wichtigste ist, dass niemand seine Vorgeschichte kennt. Was in seinem Leben fehlt, ist eine Frau. Er hat welche getroffen, über Dating-Seiten, Kontaktannoncen und manchmal auch irgendwo in einer Kneipe. Aber sie verschwinden immer schnell wieder. Nicht wegen seiner fehlenden Zunge, sondern weil er die Niederlage wie einen Rucksack voller Altlasten mit sich herumträgt. Voll dummer Redewendungen, mit denen er sich selbst niedermacht, Zurückweisungen, die er vorwegnimmt, und einem Misstrauen allen Frauen gegenüber, die sich so verhalten, als wollten sie ihn tatsächlich haben. Das Übliche. Der Gestank der Niederlage, der ihm anhaftet und vor dem alle weglaufen. Doch eines Tages geschieht etwas. Er trifft eine Frau, die

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