Ler-Trilogie 01 - Morgenrötes Krieger
ebenfalls. „Noch etwas?“
Liszendir verharrte einen Moment lang gedanke n versunken. Dann strahlte sie und meinte: „Wenn unsere Reise sehr lange dauert, kann ich dir ja unsere Single-Sprache beibringen, die bei uns als Umgangssprache g e braucht wird. Die Multi-Sprache wirst du nicht lernen können; ich selbst beherrsche beide Formen – einer für alle, und alle für einen – zumindest kann ich dir etwas darüber erzählen. Ich kann dir auch die gleitenden Zahlen beibringen, die dir vielleicht ganz nützlich sein könnten.“
„Gleitende Zahlen?“
„Wir haben keine festgelegten Zahlensysteme wie das Zehner- oder Zweiersystem, das eure Maschinen benu t zen. Wir gebrauchen viele entsprechend der Situation. Wir sind Anti-Aristoteliker. Nach unserer Vorstellung kann die Realität nicht in irgendeine festgelegte Anzahl von Zuständen zerlegt werden. Deshalb benutzen wir viele Systeme; theoretisch könnten wir jede beliebige Zahl als Basis nehmen, aber wir beschränken uns auf jene Systeme, die auf einer Primzahl, multipliziert mit zwei, aufgebaut sind, wie zum Beispiel die Basiszahl sechs, die wir den ‚Kinderweg’ nennen, oder die Basis zehn, die wir aber vermeiden – oder die Basiszahl vie r zehn. Es gibt eine Menge anderer: Basis vierundneunzig zum Beispiel, oder ein System, das Wortstämme der Si n gle-Sprache als Ziffern einer Zahlenreihe verwendet.“
„Warum nicht zehn oder zwei wie bei uns?“
„Ein doppelter Grund. Einmal, um den Anti-Aristotelismus konsequent durchzuführen, zum anderen, um zu verhindern, daß die Kinder mit den Fingern zä h len. Wir haben ja fünf wie ihr auch, aber sie sollen vom ersten Lebensjahr an abstrakt denken lernen – das e r leichtert später vieles.“
Sie hielt ihm ihre Hand hin, damit er sie sich anscha u en konnte. Sie war anmutig und kräftig zugleich, weich und schön geschnitten. Sie ähnelte stark einer normalen menschlichen Hand, abgesehen davon, daß der Handte l ler schmaler war und der kleine Finger weiter abstand und tiefer lag, damit an einen kleinen Daumen erinnernd. Wie der andere Daumen, so war auch dieser gegenst e hend, so daß die Ler beim Schreiben weder rechts- noch linkshändig waren, sondern mit beiden Händen in gle i cher Weise schreiben konnten, wobei sie den Stift zw i schen beiden Daumen hielten. Liszendir trug keinen Ring. Die Nägel waren rosa, glatt und kurz geschnitten. Ins Auge fiel allein eine kleine Tätowierung an der Wu r zel des Innendaumens, die an das alte chinesische Sy m bol von Yin und Yang erinnerte.
„Was bedeutet dieses Zeichen?“ fragte Han.
„Es ist das Erkennungszeichen meiner Berufsausbi l dung.“
„Es ähnelt sehr einem antiken Symbol auf der alten Erde. Chinesisch! Hat sich euer Volk diese Zeichen zum Vorbild genommen?“
„Ja, zum Teil. Das beste Beispiel ist die Sprache. U n sere Single-Sprache ist nach ihrem Vorbild aufgebaut, allerdings nur, was die phonetischen Einheiten anbetrifft. Syntax und Grammatik haben wir nicht übernommen. Jeder Wortstamm in der Single-Sprache hat drei Teile: Anfangskonsonant, Mittelvokal und Endkonsonant. Den Regeln gemäß hat jede Einheit vier Bedeutungen. Soweit die Entsprechungen. Für die Aussprache benutzen wir das Alt-Englisch, da wir früher in einem Land lebten, wo man diese Sprache gesprochen hat. Wir haben viel von ihren Grundprinzipien übernommen, jedoch unter Ve r wendung eines anderen Materials. Das sind somit die Unterschiede.“
Han wollte unterbrechen, aber Liszendir fuhr fort: „Vor allem haben wir ihren Gedanken der Veränderlic h keit und des steten Wechsels aufgegriffen. Sie wußten sehr gut über das Prinzip der Permutation Bescheid, auch darüber, daß alle Dinge vergänglich sind. Alles, was e i nen Anfang hat, muß vergehen, und alles, was existiert, muß sich verwandeln. Sie waren als Traditionalisten ve r schrien, aber ihre Kultur dauerte auf der Erde länger als jene, die an Steine, Metalle und die Illusion der Unve r gänglichkeit glaubte. Wir hoffen, daß sie auch weiterhin fortbestehen wird.“
Han erhob sich, ging zur Kücheneinheit, programmierte sie und kam zurück. Dann sprachen sie über die Me n schen. Han fühlte sich dabei im Nachteil, da ihm jenes Kontinuitätsbewußtsein mit den Vorfahren fehlte, das Li s zendir in ganz ausgeprägter Form zu besitzen schien. Die Ler-Gesellschaft machte auf ihn einen statischen, altmod i schen, primitiven und sippengebundenen Eindruck. De n noch eigneten sie sich ohne große Mühe bestimmte
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