Ler-Trilogie 01 - Morgenrötes Krieger
die Arme aus. Sie sank an seine Brust, wobei sie sich mit einem ve r zweifelten Griff fest an ihn klammerte – und ihn auch für geraume Zeit nicht mehr losließ. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und benahm sich wie ein schutzbedür f tiges Kind, das man lange Zeit allein gelassen hatte. Dann löste sie ihren Griff und trat einen Schritt zurück. Ihre Augen waren gerötet, aber ohne Tränen, ihr Blick war leer und ausdruckslos.
Han führte sie zu seinem Tisch, wo man ihr bereitwi l lig Platz machte, dann schickte er einen Küchenjungen los, um einen weiteren Teller mit gegrilltem Fleisch zu holen. Während sie aß, stellte Han die Anwesenden vor; Liszendir begann sehr langsam zu essen, als hätte sie vorher noch nie eine Mahlzeit gesehen, aber als der lange Abend zur Nacht wurde, verdrückte sie bedächtig, aber stetig, drei weitere volle Teller, dazu zwei Salatplatten und drei Krüge Bier. Sie sagte kein Wort, sondern nickte nur höflich bei gelegentlichen Bemerkungen oder zog ab und zu die Augenbrauen hoch, wenn ihr auffiel, daß Han ihre eigene Sprache benutzte.
Schließlich war sie fertig, und nachdem alle vier noch ein wenig über dies und das geplaudert hatten, meinten die Gefährten aus Ghazh’in, daß es für sie Zeit wäre, ins Bett zu gehen, da sie am Morgen in aller Frühe zurüc k fahren wollten. Schließlich waren Han und Liszendir a l lein. Sie saß neben ihm: still, den Blick ins Leere geric h tet, tief in Gedanken versunken. Ihre Augenlider wurden schwer und fielen schließlich ganz herab; Han bezahlte, hob sie hoch und trug sie in die Herberge. Sie war leicht wie eine Feder.
Liszendir schlief drei Tage lang. Han säuberte sie währenddessen und verarztete, so gut er konnte, ihre Wunden und Prellungen. Langsam bekamen Haut und Muskeln wieder Farbe. Am Abend des dritten Tages e r wachte sie. Lange Zeit sagte sie kein Wort, starrte nur aus dem Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte, und beobachtete den Marktplatz unter ihr, den ein wo l kenverhangener Himmel überspannte und auf dem Mensch und Ler wie eh und je um Profite feilschten: eine Szene, so alt wie die menschliche Kultur. Endlich ergriff sie das Wort: „Du siehst selbst, daß ich den Kampf verl o ren habe und daß es uns das Schiff gekostet hat.“
„Glaub mir, ich habe mir mehr Sorgen um dich als um das Schiff gemacht. Fast hatte ich schon alle Hoffnung aufgegeben.“
„Du bist lieb. Aber es ist nun mal so, es läßt sich nicht ändern. Und er wird zurückkommen. Dann wird er uns gefangennehmen. Wenn nicht, dann sind wir hier für immer gestrandet. Außerdem habe ich auch einiges von mir selber dabei verloren.“
Sie hob ihre Hände. Die Gelenke waren stark g e schwollen und hatten ihre normale Geradlinigkeit eing e büßt. Han spürte, wie sich Bitterkeit unter seine sonstigen Gefühle mischte. Beide Handgelenke waren gebrochen.
„Ja, du siehst es selbst.“
Sie schwieg wieder eine Weile. Dann begann sie ihre Geschichte zu erzählen – langsam, zögernd, Zug um Zug. Es widerstrebte ihr, sie zu wiederholen, doch sie konnte nicht verhindern, daß es aus ihr herausbrach. Nachdem sie Han aus dem Schiff katapultiert hatte, war sie auf die Jagd nach Hath’ingar gegangen. Er hatte dabei ständig Abstand zu ihr gehalten, sich ihr immer wieder geschickt entzogen und versucht, einen Hinterhalt zu legen. Aber sie hatte ihn dann doch erwischt und ihm für kurze Zeit die Pistole entwenden können. Aber da sie keinen G e brauch von ihr machte, hatte er sie gepackt und ihr beide Gelenke gebrochen. Mit übermenschlichem Krafteinsatz hatte sie sich zu befreien vermocht, jedoch mit dem s i cheren Wissen, daß sie so gut wie am Ende war. Mit all ihren Fähigkeiten und ihrem Können war sie Hath’ingar einen Moment lang überlegen gewesen – nun war er es, der im Vorteil war. Sie ergriff die erstbeste Chance, um denselben Fluchtweg wie Han zu nehmen. Er ließ sie gehen und kümmerte sich nicht weiter um sie. Er war sicher, daß sie nicht überleben würde.
Aber sie überlebte. Sie war irgendwo weit westlich g e landet – in einer völlig unbewohnten Gegend mit wei t räumigen Steppen. Das Nahrungskonzentrat im Re t tungsgleiter machte sie krank – vielleicht weil es einige Spurenelemente zuviel oder zu wenig hatte. So mußte sie auf die Jagd gehen. Zuerst war es schwierig – mit zwei nutzlosen Händen. Aber irgendwie schaffte sie es doch. Sie aß Würmer, Larven, Kleingetier, Beeren und Blätter. Schließlich kam sie zu einer
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