Lerchenherzen
wir, sollte ich wohl lieber sagen, denn du liegst hier neben mir und schläfst, und ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, dich als ein eigenständiges Wesen zu betrachten, von meinem eigenen Körper getrennt. Du bist mir zu nahe, zu winzigklein und beklagenswert abhängig von mir, als daß du eine eigene Person sein könntest. Wenn jemand anders dich hochnimmt, jedenfalls wenn du hungrig bist, suchst du blind mit Mund und Nase an ihnen, als ob du versuchtest zu riechen und zu schmecken, wo du hingehörst. Dauert es eine Weile, bis ich dich bekomme, entwickelst du ganz schnell eine wild gestikulierende Wut, die sich auch nicht von liebevollen Zärtlichkeiten besänftigen läßt. Du ruderst mit den Armen und schreist, als wärest du der schlimmsten Folter ausgesetzt, aber in dem Moment, wo du den Geruch meiner vor Milch fast berstenden Brüste wahrnimmst, fällst du in einen tranceähnlichen Zustand. Dein kleiner Mund sucht verzweifelt, bis er die große, dunkelbraune Brustwarze zu fassen bekommt. Und dann vergessen wir beide die Welt. Wir kümmern uns nicht um deine Großeltern, die dastehen und uns zuschauen, als ob ein kleines Kind, das trinkt, ein vollkommen neuesund unbekanntes Phänomen sei, ein neu entdecktes Wunder.
Mein Vater ist total närrisch nach dir. Er würde dich stundenlang tragen, wenn ich es ihm erlaubte. Mit Kindern hat er eine glückliche Hand. Er nimmt deinen zarten Körper so vorsichtig in seine großen Hände. Wenn ich das sehe, denke ich, daß ein kleines Kind in groben Männerhänden der schönste Anblick auf der Welt ist, und dann weine ich, weil ich an die Hände deines Vaters denken muß, den du niemals kennenlernen wirst. Das macht meinen Vater so hilflos, ich sehe es in seinem Gesicht. Mein lieber Vater hat noch nie gut mit meinen Tränen umgehen können.
Ich weine aber schon weniger als früher. In den letzten Wochen habe ich mich hin und wieder fast freuen können. Und heute morgen wurde ich zum ersten Mal in all den Monaten ohne dieses entsetzliche Gefühl der erlebten Katastrophe wach. Es ließ mich lange abends verzweifelt gegen den Schlaf ankämpfen, weil es so grausam ist, am Morgen damit wieder aufzuwachen. Mutter sagt, ich muß essen und schlafen, sonst bleibt die Milch weg.
Wenn du mich nachts weckst und nach Milch verlangst, ist es irgendwie anders. Da gibt es nur uns zwei, und du bist mehr denn je ein Teil von mir. Ich kann den Rest der Welt ausschließen und schaffe es, uns in ein Netz von Gedankenleereeinzuspinnen, in dem nur du und ich existieren. Du bist ein Teil von mir, daneben wirst du gleichzeitig ein eigener neuer kleiner Mensch. Tagsüber sind so viele andere um uns – zum Glück.
Ragnhild kommt an jedem Morgen mit Kaffee zu mir. Sie versucht, mich zu verwöhnen, oder vielleicht versucht sie, ihre eigene Trauer zu unterdrücken, indem sie mich in ihre Obhut nimmt. Meistens habe ich dann schon mehrere Stunden wachgelegen. Ich habe sie und Lars in den Kuhstall gehen gehört, habe gehört, wie Lars mit den Milchkannen klappert, wenn er sie auf den kleinen Milchwagen stellt und sie den Weg hinunter zur Milchrampe fährt.
Alle die vertrauten Geräusche zu hören ist gut und schlecht zugleich. Zuweilen kann ich mir beinahe einbilden, wieder ein Kind zu sein, und daß die kleinen Atemzüge neben mir nicht von dir, sondern von deinem Vater kommen. Wir haben so oft zusammen übernachtet, als wir Kinder waren. Manchmal fühle ich mich, als hätte ich zugleich meinen einzigen Bruder verloren und meinen Liebsten. Ich habe meinen Liebsten verloren! Wird dieser Satz irgendwann einmal nicht mehr so unendlich weh tun?
Wenn Ragnhild mit dem Frühstückstablett hereinkommt, stellt sie es immer auf dem alten Waschtisch ab, der als Nachttisch benutzt wird, und dann steht sie lange über den Korb gebeugt,in dem du schläfst, während ich versuche, so zu klingen, als sei ich gerade aufgewacht, um ihr eine Freude zu machen. Dann zieht sie sich den blau gestrichenen Stuhl ans Bett und schenkt uns Kaffee ein. Und dann sprechen wir von Nils-Jan.
Ich weiß nicht, ob ich es ohne diese halbe Stunde morgens mit Ragnhild geschafft hätte zu überleben. Wir reden und lachen und weinen. Wir erinnern uns an all die Sachen, die er und ich als Kinder getan haben, und wir sprechen über all seine Pläne und Träume. Und von seiner frühesten Vergangenheit, über die wir alle so wenig wissen.
Es ist merkwürdig, wie sogar die tiefste Trauer ein wenig gelindert werden kann, wenn sie mit
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