Lerchenherzen
den Schlüssel versteckt, Mathilde? Hast du etwas in deiner Truhe, das niemand sehen darf? Im Schubladeneinsatz auf der rechten Seite liegt ein altes Papier, aber es wird sich dabeidoch wohl kaum um ein kompromittierendes Schriftstück handeln? Wie ein Liebesbrief sieht es jedenfalls nicht aus.
Das alte Bild, das zusammen mit dem vergilbten Dokument in all diesen Jahren dort gelegen hat, ist tatsächlich weg, Mathilde. Was hast du mit dem, was du so gut versteckt hast, getan? Das, was kein lebendes Wesen je sehen durfte? Hast du es in deine Nachttischschublade gelegt, jetzt wo du so krank bist, daß du das Bett hüten mußt? Hast du dich wegen der alten Photographie mühsam aus dem Bett erhoben, an dem Abend, als du bäuchlings auf dem Fußboden lagst, wo Ragnhild dich fand, als sie vor dem Schlafengehen nach dir sehen kam? War es das Bild, das du an deiner Brust verstecktest, unter dem hellroten Flanellnachthemd?
Ach Mathilde, dein Leben lang hast du um einen getrauert, den du nicht bekamst, und jetzt zerrinnt dir dein Leben zwischen den Händen, während du sein Bild krampfhaft festhältst und in die Ferne, in eine andere Wirklichkeit starrst. Seinen Namen, den du so oft geflüstert hast, brauchst du nicht mehr zu nennen.
Nur Solfrid hört dich, wie du seinen Namen noch einmal halblaut murmelst, die junge, sorglose Solfrid, die Nils-Jans Kind unter dem Herzen trägt und eine grenzenlose Trauer vor sich hat. Sie erhebt sich, legt ihre Hardangerstickerei beiseite und löst deine Finger von der Photographie, aufdie sie bloß einen halb neugierigen, halb abwesenden Blick wirft, ehe sie das Photo in die Kommodenschublade legt.
Sie starrt dich verwundert an – dies ist ihre allererste Begegnung mit dem Tod –, sagt deinen Namen und streicht dir vorsichtig prüfend über das Gesicht, ehe sie läuft, um Ragnhild zu holen.
Ja, Mathilde, nun kannst du ruhig werden. Wir glauben, daß du Frieden finden wirst.
52
Mathildes Tod kam ungelegen, wie der Tod meistens ungelegen kommt. Es war mitten in der Kartoffelernte, und unten auf dem Acker westlich der Häuser mischten sich die munteren Rufe und das freundschaftliche Necken der Jugend mit dem klingenden Geräusch, wenn die Kartoffeln im Eimer landeten. Hin und wieder durchschnitt eine helle Mädchenstimme lachend die klare Herbstluft, wenn nach einem gut gezielten Wurf eine Kartoffel den Hosenboden traf.
»Mensch, laß das, Olefejus! Bist du nicht ganz dicht?«
Nur äußerst selten ging die gekränkte Partei zu Handgreiflichkeiten über, denn die Zeit war knappgenug, um auf dem zugeteilten Stück Land alle Kartoffeln zu ernten, ehe der Kartoffelroder unbarmherzig eine neue Reihe umpflügte. Mußte er für einen Nachzügler anhalten und warten, dann war das die größte Schmach.
Glücklicherweise benutzte Lars Pferde, so war der Roder weniger schnell, und die Kartoffeln sprangen nicht so weit weg. Es war daher leichter, alles gründlich abzuernten, und wer mit seinen Händen flink genug war, dem blieb sogar Zeit, sich für einen klitzekleinen Moment auf den Eimer zu setzen, ehe es mit immer heftiger schmerzendem Rücken weiterging.
Es nützte wenig, sich über Rückenschmerzen zu beklagen, denn die Erwachsenen hatten ihre Stücke Land strategisch zwischen die jungen Leute plaziert, um die Truppe in Zucht zu halten.
»Ha, Rückenschmerzen? Du hast doch noch gar keinen Rücken, über den du klagen könntest!«
Nein, da war es mit den Ølteren schlimmer, die in der kurzen Pause stöhnend neben ihrem Eimer zusammensanken, und die gern einen von den Kleinen und Leichtfüßigen in der Reihe neben sich hatten, der die verirrten Kartoffeln auflas. Das kräftige Hinterteil in die Luft gestreckt, einen Ellbogen auf dem Knie als Stütze für den zänkischen Rücken, sammelten sie mit einer Hand und kamen natürlich im Verhältnis zu den schnellsten der jungen Leute nicht hinterher.
Diese Jugendlichen hatten Kartoffeln geerntet, seit sie laufen konnten, und machten in allen Kartoffelferien und auf allen Höfen mit. Die besonders flinken Kartoffelernter waren begehrt, sie wurden von einem zum nächsten Jahr gern wieder angestellt, solange sie im richtigen Alter waren. Eine Woche schulfrei, eine Arbeitszeit, die vor Sonnenaufgang begann und nach Sonnenuntergang endete, für den Lohn konnte sich ein Zwölf-, Dreizehnjähriger nicht nur ein Fahrrad, sondern auch eine Uhr verdienen, jedenfalls wenn er das Geld vom Rübenverziehen im Frühjahr dazulegte. Eine Krone per Reihe
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