Lerchenherzen
anderen geteilt wird.
55
Gestern kam Evine mit Grütze hierher. Nein, natürlich nicht wirklich mit Grütze wie in alten Zeiten, wenn jemand ein Kind bekommen hatte, aber eben mit einem Geschenk. Sie brachte einen niedlichen kleinen Wollpullover, dazu Hosen, Socken, Fäustlinge und Mützchen, alles aus Garn, das sie selber mit Pflanzenfarben gefärbt hatte. Erst wollte sie nicht hereinkommen, stand nur inder Türöffnung, so wie sie es zu tun pflegt, wenn sie sich, selten genug, einmal zeigt. Als Ragnhild sie schließlich lange genug genötigt und ihr versichert hatte, daß nur sie und ich zu Hause seien, kam sie schließlich herein und setzte sich auf die äußerste Stuhlkante.
Ich glaube, es gibt auf der Welt keinen zweiten Menschen, so scheu und vorsichtig wie Evine. Solange ich lebe, und natürlich viel, viel länger, ist sie durch die Wälder und die Heide gestreift, ohne mit einer lebenden Seele zu reden. Ja, hin und wieder sprach sie vorsichtig ein bißchen mit mir und deinem Vater, aber meistens biegt sie vom Weg ab, wenn ihr jemand begegnet, und wartet, bis er vorbei ist. Mutter sagt, so sei sie schon immer gewesen.
Wie sie sich freute, als ich sie fragte, ob sie dich halten möchte! Ihr Gesicht leuchtete richtig auf, so daß ich sehen konnte, was der alte Jakob immer gesagt hatte – Evine sei in ihrer Jugend so hübsch gewesen. Sie hielt dich ganz vorsichtig auf dem Schoß und wiegte dich sanft hin und her. Und du, der du gerade etwas zu essen bekommen hattest und satt und vergnügt warst, lagst einfach da und starrtest ihr ins Gesicht und bewegtest dabei deine winzigen Fingerchen, wie du das immer tust. Und stell dir vor, dann hast du gelächelt!
Seit Tagen schon versuchten Ragnhild und ich alles mögliche, um dich zum Lächeln zu bringen.Du hast uns die witzigsten Grimassen beschert, aber wie wir uns auch bemühten, ein richtiges Lächeln hast du uns nicht geschenkt. Nicht einmal meinem Vater, der bei dir so hoch im Kurs steht, ist es gelungen, dir ein Lächeln zu entlocken.
Evine also sollte dein erstes Lächeln bekommen. Ja, sie hat es durchaus verdient. Wir beide, dein Vater und ich, glaubten lange, daß sie uns einmal das Leben gerettet hat. Und vielleicht ist das auch so. Das war damals, als wir uns im Wald verliefen, in dem Herbst, als wir acht und neun Jahre alt waren, das allererste Mal, daß ich ihn von seiner Mutter reden hörte.
Gestern fragte ich Evine, während sie dich auf dem Schoß hielt und ich neben ihrem Stuhl kniete und dich meinen Zeigefinger greifen ließ (wie fest du zufassen kannst!), ich fragte sie, ob sie sich an unsere Tour nach Hause im Mondschein in jenem Herbst erinnerte. Sie nickte und flüsterte mit gesenktem Kopf, ja, sie erinnere sich.
Manchmal ist es unmöglich zu hören, was sie sagt, so schüchtern ist sie. Sie hatte sich mit weißer Bluse und Faltenrock schön gemacht, so daß ich glaube, sie hatte gehofft, hereingebeten zu werden, selbst wenn Ragnhild und ich beinahe Gewalt anwenden mußten, um sie ins Haus zu bekommen.
Sie war schon neugierig, dich zu sehen. Seitdemwir uns verlaufen hatten, war sie uns beiden, deinem Vater und mir, sehr zugetan. Oft, wenn wir hinter Jakobs Scheune spielten, konnten wir sehen, wie sie halb hinter einem Fichtenstamm versteckt stand und uns zuschaute.
Und natürlich waren wir neugierig auf sie. Mitunter folgten wir ihr mit Abstand, um zu sehen, womit sie beschäftigt war. Meistens pflückte sie Blumen oder Beeren. Als wir anfingen mit ihr zu reden, fiel mir auf, wieviel sie über Blumen wußte. Und sie wußte auch, wozu man sie verwenden konnte, welche medizinische Pflanzen waren und welche geeignet für die Pflanzenfärbung.
Während des Krieges hat Evine für den ganzen Ort Wollgarn gefärbt. Sie hielt auf ihrem kleinen Hof auf der Heide Schafe und spann und färbte Garn, das sie verkaufte oder gegen Essen eintauschte. Sie pflückte auch Pilze, die Mathilde im Ort weiterverkaufte.
Bis nach dem Krieg hat niemand gewußt, daß Evine die Nachrichten für die ältesten Zwillingsbrüder von Ragnhild, die sich im Wald versteckt hielten, überbrachte. Mathilde hatte in dem großen ausgestopften Hund, der immer in der Kammer auf dem Sekretär stand, ein Radio versteckt. Der Hund steht noch da, aber das Radio ist natürlich weg. Nach Ende des Krieges wurde es herausgenommen.
Mathilde und Evine leisteten zusammen gefährlicheUntergrundarbeit. Nicht einmal Ragnhild hatte davon gewußt. Mathilde wollte nicht, daß Ragnhild, wenn es
Weitere Kostenlose Bücher