Lerchenherzen
auffliegen würde, dadurch in eine schwierige Situation geriete. So war es wohl während des Krieges: je weniger etwas wußten, um so besser.
Es war ja schon übel genug, als die Deutschen den Radiosender der Brüder in der alten Räuberhöhle oben auf Børjærås entdeckten. Wenn du größer geworden bist, nehme ich dich mit zur Höhle. Dort ist es ganz interessant, dein Vater und ich sind oft oben gewesen. Und dann werde ich dir die alte Geschichte von der Räuberbande erzählen, aber nur, wenn du versprichst, dich nachts nicht dadurch zu ängstigen, so wie er, der Ørmste. Du wirst auch von dem Sender zu hören bekommen, der beinahe einige der jungen Männer des Ortes den Deutschen in die Hände schickte. Das wäre auch schiefgelaufen, wenn nicht Mathilde davon Wind bekommen hätte, daß etwas im Schwange war, und Evine mit einer Warnung hingeschickt hätte.
Mathilde und Evine waren es auch, die gemeinsam den Wunsch der Zwillinge erfüllten, ihre Mutter zu sehen, ehe sie sich nach Schweden absetzten. Ragnhild erzählte mir diese Geschichte gestern abend, als wir mit Evine Kaffee tranken.
Diese ewig keifende Mutter mit ihren andauernden Drohungen, den einen zu packen und denanderen damit zu verhauen – die wilden Zwillinge wollten ihr Leben aufs Spiel setzen, um sie noch einmal zu sehen. Wirst du deine Mutter einmal so liebhaben, mein kleiner Jakob?
56
Winter 1943. Die beiden stehen dort oben auf dem dunklen Gang zum Boden, zwei sich unheimlich ähnlich sehende junge Männer. Sie haben das gleiche braune, gewellte Haar, etwas heller und lockiger als Ragnhilds, die gleichen schmalen, ein wenig schiefen Schultern und genau den gleichen angespannt lauernden Ausdruck in den graublauen Augen, als sie sich vorbeugen und vorsichtig auf den Flur hinunterblicken.
Sie können ein bißchen von der Haustür sehen und ein kleines Stück des Fußbodens unter der Deckenlampe, ohne von unten gesehen zu werden. Mathilde hat das selbst ausprobiert, ehe sie die beiden kurz und bündig nach oben scheuchte. So ist das mit Mathilde, wenn sie gerührt ist, wird sie noch barscher als sonst, und heute ist sie besonders schlimm.
»Das macht doch wirklich keinen Sinn! Sich und andere auf diese Weise in Lebensgefahr zubringen.« Sie murmelt und faucht vor sich hin, aber niemand anders als sie hat die ganze Nacht wachgelegen, um dieses Treffen zwischen Mutter und Söhnen zustande zu bringen. Sie hat Ragnhild weggeschickt, um die Mutter zu holen, und hat eines ihrer kostbaren Eier für Waffeln spendiert, mitten in der Woche!
Als sie mit roten Wangen aus der Novemberdunkelheit hereinkommen und im Gang stehenbleiben, läßt sich Mathilde unter dem sparsamen Lampenlicht so viel Zeit, daß Ragnhild ganz ärgerlich wird. Wird sie die Leute nicht hineinbitten? Aus der Küche duftet es nach Waffeln, aber Mathilde steht da und redet über dies und das, zeigt den neuen Mantel, den sie für Ragnhild aus einer »Wolldecke« genäht hat – es sieht ihr gar nicht ähnlich, so anzugeben und sich in dem kalten Flur so unendlich viel Zeit zu lassen, weit mehr als üblich!
Sie haben die Gelegenheit, einen ausführlichen Blick auf ihre Mutter zu werfen, die zwei, die dort oben ganz still stehen, und von den unterdrückten Tränen einen immer größer werdenden Kloß im Hals haben. Wie alt sie geworden ist, in diesen wenigen Monaten! Ihre freundliche, liebe, schimpfende Mutter. Sie wünschten, sie käme die Treppe zu ihnen heraufgerauscht, würde sie beide im Nacken packen und ihre Nasen aneinander reiben, so wie früher, als sie klein waren, und sie anschreien,jetzt könnten sie merken, daß sie aus einer Familie kämen!
Sie jedoch gleitet ahnungslos aus ihrem Blickfeld, in die Küche zu Kaffee- und Waffelduft, etwas überrascht darüber, wie spendabel Mathilde auf einmal ist, aber eigentlich mehr mit dem eigenen Kummer über die weit verstreute Kinderschar beschäftigt. Und nicht ehe der Krieg aus ist, wird sie erfahren, wie nahe sie den beiden Söhnen war, die, während sie andächtig eine dünne Schicht von Mathildes duftendem goldenen Honig auf ein Waffelherz schmierte, still die Treppe hinunterschleichen und sich auf den kalten Weg nach Schweden machen.
57
Es ist Nacht geworden, meiner kleiner Jakob. Schon vor langem hat sich Evine auf leisen Sohlen aufgemacht, und jetzt streift sie vielleicht auf der Heide hinter dem Jakobshügel umher, so wie sie das zu tun pflegt. Erst durfte sie noch sehen, wo du nachts untergebracht bist, und durfte dich
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