Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Vorurteile und Irrtümer. Ihre Vernichtung soll uns das Licht bringen. Wir haben die alte Weltordnung gestürzt, dieses Gefäß allen Elends, und so ist aus ihr eine Freudenurne geworden.«
»Die Freude war gemischt«, meinte der Bischof.
»Sie mögen sagen, sie war getrübt; und heute, nach jener verhängnisvollen Wiederkehr des Vergangenen, ist sie vollends verschwunden. Ach, das Werk ist unvollendet, ich gebe es wohl zu. Wirhaben das alte Regime zerstört, aber die Ideen, auf denen es fußte, konnten wir nicht unterdrücken. Es genügte nicht, den Mißbrauch abzuschaffen. Eine neue Gesittung mußte entwickelt werden. Die Mühle ist nicht mehr, aber noch immer weht derselbe Wind.«
»Sie haben zerstört. Das mag nützlich sein, aber ich mißtraue einer Zerstörung, die aus dem Zorn entsteht.«
»Auch das Recht kennt den Zorn, mein Herr; der Zorn beleidigten Rechtsgefühls ist ein Element des Fortschritts. Man mag sagen, was man will, die französische Revolution ist seit dem Erscheinen Christi der gewaltigste Schritt, den das Menschengeschlecht vorwärts getan hat. Sie hat alles soziale Unrecht ausgeglichen. Sie hat die Geister besänftigt. Sie hat beruhigt, versöhnt, aufgeklärt. Sie hat der ganzen Erde den Stempel ihrer Zivilisation aufgedrückt. Sie war gütig. Sie ist die Heiligung des Menschenbegriffs.«
»Und dreiundneunzig?«
Mit erhabener Feierlichkeit richtete sich das Konventsmitglied in seinem Stuhle auf und rief, so laut ein Sterbender zu sprechen vermag:
»Ach, da wären Sie also! 1793! Darauf habe ich gewartet! Oh, fünfzehn Jahrhunderte lang hat diese Wolke sich zusammengeballt, dann ist sie geborsten, und nun klagt ihr den Blitz an.«
Vielleicht fühlte der Bischof, ohne sich selbst dessen ganz bewußt zu werden, daß etwas in ihm unsicher wurde. Aber er bewahrte Haltung.
»Der Richter spricht im Namen der Gerechtigkeit, der Priester im Namen des Mitleids, das nur eine höhere Gerechtigkeit ist. Der Blitz darf sich nicht irren. Wie steht es mit Ludwig XVII.?«
Das Konventsmitglied streckte die Hand aus und ergriff den Arm des Bischofs.
»Ludwig XVII.? Nun, wen beklagen Sie? Das unschuldige Kind? Gut, ich beklage es mit Ihnen. Das Königskind? Das wäre zu erwägen. Für mich ist der Bruder des Cartouche, dieses unschuldige Kind, das auf dem Grèveplatz an den Achseln aufgehängt wurde, bis es starb, nur weil es eben der Bruder jenes Cartouche war, nicht minder beklagenswert als der Enkel jenes Ludwig XV., dieses unschuldige Kind, das im Temple zu Tode gemartert wurde, eben weil es der Enkel jenes Ludwig XV. war.«
»Mein Herr«, sagte der Bischof, »ich liebe es nicht, daß Sie diese Namen in einem Atem nennen.«
»Cartouche? Ludwig XV.? Welchen von beiden bevorzugen Sie?«
Eine Pause trat ein. Der Bischof bedauerte fast, hierhergekommen zu sein, und doch fühlte er sich seltsam berührt und ergriffen.
»Ja, mein Herr«, fuhr das Konventsmitglied fort, »Sie lieben nicht die Härte der Wahrheit. Christus … der liebte sie. Der nahm eine Geißel und trieb das Pack aus dem Tempel. Seine Geißel sagte rauhe Wahrheiten. Wenn er sagte, sinite parvulos , lasset die Kindlein zu mir kommen, so machte er zwischen den Kindern keinen Unterschied. Ihm war es nicht peinlich, den Jungen des Barabbas und den des Herodes einzuladen. Die Unschuld, mein Herr, krönt sich selbst. Sie bedarf keiner Auszeichnung. Sie ist an sich erhaben, herrlich – ob sie in Lumpen gekleidet ist oder in Seidengewänder, die mit den königlichen Lilien geschmückt sind.«
»Das ist wahr«, sagte der Bischof leise.
»Einen Augenblick«, sagte das Konventsmitglied, »Sie erwähnten Ludwig XVII. Verstehen wir uns richtig: sind es die Unschuldigen, alle die kleinen Märtyrer, die niedrigen und die hohen, die wir beklagen? Wenn es so ist, dann will ich einstimmen. Gut, aber dann dürfen wir nicht bei 1793 stehenbleiben, unsere Tränen müssen früher einsetzen. Ich will mit Ihnen die Kinder der Könige beklagen, wenn Sie mit mir einstimmen in die Klage um die Kinder des Volkes.«
»Ich beklage alle«, sagte der Bischof.
»Gut«, rief G., »und wenn die Waagschale sich senken soll, dann sei es auf der Seite des Volkes, denn es leidet seit längerer Zeit.«
Wieder trat eine Pause ein. Das Konventsmitglied brach sie. Der Greis stützte sich auf den Ellbogen, kniff mit Daumen und Zeigefinger eine Falte in seine Wange, wie man es wohl mechanisch tut, wenn man einen anderen verhört, und stellte den Bischof streng zur
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