Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
er, der sie mir geschenkt hat, da droben zufrieden mit mir ist. Ich tat, was ich konnte. Vergeßt nicht, liebe Kinder, daß ich ein armer Mann bin, und laßt mich in irgendeiner Ecke begraben. Ich will das so. Setzt keinen Namen auf meinen Stein. Wenn Cosette zuweilen mich besuchen will, wird es mich freuen. Auch Sie sollen kommen, Herr Pontmercy. Ich war, offen gesagt, nicht gerade immer Ihr Freund, Verzeihen Sie mir. Aber ich weiß, daß Sie Cosette glücklich machen, und dafür bin ich Ihnen dankbar. Ich war immer glücklich, wenn das Kind rosig war, immer traurig, wenn ich sie blaß sah. In der Kommode liegt ein Fünfhundertfrankenschein. Ich habe nichts davon verbraucht. Gebt das Geld den Armen. Cosette, siehst du dort auf dem Bett das Kinderkleid? Erkennst du es? Erinnerst du dich an Montfermeil, Cosette? Du hattest damals große Angst. Erinnerst du dich noch, wie ich dir den Eimer abnahm? Damals habe ich zum erstenmal dein armes, kleines Händchen berührt. Ach, es war so kalt! Du hattest rote Hände, damals, aber jetzt sind sie weiß. Und die große Puppe! Erinnerst du dich? Du nanntest sie Katherine. Es tat dir so leid, daß du sie nicht ins Kloster mitnehmen durftest! Wie oft habe ich lachen müssen über dich, mein Engel! Wenn es geregnet hatte, warfst du Strohhalme in den Rinnstein und sahst ihnen nach. Einmal kaufte ich dir einen Schläger und einen Ball mit gelben, blauen und grünen Federn. Du hast es vergessen. Und die Thénardiers waren sehr schlecht zu dir. Man muß es ihnen nicht verübeln. Du sollst jetzt auch den Namen deiner Mutter wissen. Sie hieß Fantine. Merk dir diesen Namen:Fantine. Knie immer nieder, wenn du ihn aussprichst. Sie hat viel gelitten und dich sehr geliebt. Cosette, es war nicht meine Schuld, daß ich all die Zeit über nicht zu dir kam. Mir hat es das Herz zerrissen; Kinder, ich sehe nicht mehr ganz klar, ich hätte euch noch vieles zu sagen, aber es ist ja nicht wichtig. Denkt ein wenig an mich. Ihr seid gesegnete Geschöpfe. Ich weiß nicht, was das ist, aber ich sehe jetzt Licht. Kommt noch näher. Gebt mir eure lieben Köpfe, damit ich meine Hände darauf lege.«
Cosette und Marius knieten nieder und legten die Hände Jean Valjeans, die bereits reglos waren, auf ihre Köpfe. Er saß zurückgelehnt im Licht der beiden Leuchter, sein weißes Gesicht war dem Himmel zugewandt.
Er war tot.
Diese Nacht war tiefdunkel und von keinem Stern erhellt.
Das Gras wuchert darauf, und der Regen verwischt es
Auf dem Père Lachaise, unweit des Massengrabs, fern von dem vornehmen Viertel der Gräberstadt, fern von diesen Phantasiegräbern, die im Angesicht der Ewigkeit einer scheußlichen Mode huldigen, in einem stillen Winkel, an einer alten Mauer findet man unter einer Eibe einen Grabstein. Auch an ihm hat der Zahn der Zeit genagt, Moos und Flechten überwuchern ihn, das Wasser macht ihn grün, die Luft schwarz. Es führt kein Pfad dahin, denn das Gras wächst dort hoch, niemand will seine Füße naß machen. Wenn die Sonne scheint, kommen die Eidechsen aus ihren Verstecken hervor. Ringsum wiegt sich im Winde wilder Hafer.
Der Stein ist kahl. Man hat ihn nicht länger und breiter gemacht, als nötig war, um einen Leichnam zu bedecken.
Es steht kein Name darauf.
Doch hat vor vielen Jahren eine Hand mit Bleistift vier Verse darauf geschrieben, die der Regen und der Staub schon etwas verwischt haben und die heute gewiß schon verlöscht sind:
»Er schläft. Sein Schicksal seltsam war.
Er starb, als seinen Engel er verlor.
Und dies geschah von ungefähr,
So wie die Nacht dem Tage folgt.«
Informationen zum Buch
Kämpfe. Träume. Hoffnung. Liebe.
Jean Valjean, für den Diebstahl eines Brotes als junger Mann zur Galeere verurteilt, kehrt nach neunzehn Jahren Bagno nach Frankreich zurück. Ein freundlicher Bischof nimmt ihn gastlich auf, und als Jean der neuerlichen Versuchung nicht widerstehen kann und seinem Wohltäter das Tafelsilber stiehlt, vertuscht dieser den Diebstahl vor der Polizei, indem er Jean noch zwei silberne Leuchter dazuschenkt. Überwältigt von so viel Güte, beschließt Valjean, fortan ein anständiges Leben zu führen. Er baut sich unter falschem Namen eine neue Identität auf, gründet mit dem Erlös aus den Silbersachen eine bald prosperierende Glasfabrik, wird ein reicher Mann und gibt sein Vermögen für die Unterstützung armer und entrechteter Menschen aus. So setzt er auch alles daran, die todkranke Fantine, eine junge Arbeiterin, und ihre kleine
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