Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
allein?«
»Allein.«
»Monsignore, das werden Sie nicht tun.«
»Ich habe da«, erwiderte der Bischof, »oben in den Bergen eine kleine Gemeinde, die ich seit drei Jahren nicht besucht habe. Die Leute dort sind mir gute Freunde. Sanfte, rechtschaffene Hirten. Von dreißig Ziegen, die sie hüten, gehört ihnen eine, und sie flechten sehr hübsche Wollschnüre und spielen auf kleinen Flöten mit sechs Klappen Lieder aus den Bergen. Ich muß ihnen von Zeit zu Zeit etwas von Gott erzählen. Was sollten sie von einem Bischof denken, der sich fürchtet, was sollen sie von mir halten, wenn ich nicht komme?«
»Aber, Monsignore, die Räuber – –?«
»Halt«, sagte der Bischof, »die darf ich auch nicht vergessen. Siehaben recht. Ich könnte ihnen begegnen. Die haben es besonders nötig, daß ich ihnen von Gott spreche.«
»Monsignore, das sind Banditen! Eine Horde Wölfe!«
»Herr Bürgermeister, vielleicht hat Jesus mich über sie zum Hirten eingesetzt. Wer begreift die Vorsehung?«
»Monsignore, sie werden Sie ausrauben.«
»Ich habe ja nichts.«
»Dann werden sie Sie totschlagen.«
»Einen alten Priester, der landein zieht und Gebete murmelt? Wozu?«
»Mein Gott, wenn Sie ihnen begegnen!«
»Ich werde sie um ein Almosen für meine Armen bitten.«
Man mußte ihn gewähren lassen. Nur in Begleitung eines Knaben, der sich ihm als Führer angeboten hatte, machte er sich auf den Weg. Seine Unbeugsamkeit erregte im ganzen Lande großes Aufsehen und gab Anlaß zu schlimmen Befürchtungen.
Weder seine Schwester noch Frau Magloire nahm er mit. Auf einem Maultier ritt er über das Gebirge, begegnete niemand und kam wohlbehalten bei seinen Freunden, den Hirten, an. Er blieb vierzehn Tage bei ihnen, predigte, erledigte seine Amtsgeschäfte, gab ihnen nützliche Lehren. Als er abreisen sollte, beschloß er, ein feierliches Tedeum abzuhalten. Er sprach darüber mit dem Pfarrer. Es ergab sich, daß kein bischöfliches Ornat aufzutreiben war. Man konnte ihm ein einfaches Meßgewand, wie es die Landpfarrer benützen, mit verbliebenen Damastverbrämungen und falschen Goldtressen anbieten.
»Nun, Herr Pfarrer«, sagte der Bischof, »kündigen wir unser Tedeum an. Alles wird sich finden.«
»Man fragte ringsum in den Kirchen an, aber alle diese dürftigen Landpfarreien zusammen konnten nicht genug Paramente in ihren Sakristeien aufbringen, um einen Domkantor anständig zu bekleiden.
Während man sich noch den Kopf zerbrach, wie diesem Mangel abzuhelfen wäre, wurde von zwei unbekannten Reitern, die sich sofort wieder davonmachten, eine mächtige Truhe in das Pfarrhaus gebracht und für den Herrn Bischof abgegeben. Man öffnete sie und fand darin einen Chorrock aus goldgewirktem Tuch, eine diamantenbesetzte Mitra, das Kreuz eines Erzbischofs, einen prunkvollen Krummstab, kurz, alle die bischöflichen Gewänder, dieeinen Monat vorher aus der Schatzkammer von Notre Dame zu Embrun geraubt worden waren. In der Truhe lag ein Zettel, auf dem geschrieben stand:
»Dies sendet Cravatte dem Bischof Bienvenu.«
»Habe ich nicht gesagt, daß sich alles finden wird!« rief der Bischof. Und lächelnd fügte er hinzu: »Wer sich mit dem Pfarrerrock begnügt, dem sendet Gott das Ornat eines Erzbischofs.«
Neues Licht
Einige Zeit später tat der Bischof etwas, worüber die ganze Stadt noch mehr in Erstaunen geriet als über die Reise durch das Gebiet der Banditen.
In der Umgebung von Digne führte ein Mann ein einsames Leben. Dieser Mensch, um das Furchtbare kurz herauszusagen, war ein ehemaliges Mitglied des Konvents. Er hieß G. Von dem Konventsmitglied G. sprach man in der kleinen Welt, die Digne hieß, nur mit Abscheu. Ein Mitglied des Konvents! – Wer hielte das für möglich?! Das hatte es zur Zeit gegeben, als jeder den andern duzte und Bürger nannte. Dieser Mensch war fast ein Ungeheuer. Er hatte nicht für den Tod des Königs gestimmt, aber viel hatte nicht gefehlt! Fast ein Königsmörder! Es war schrecklich. Warum hatte man ihn nicht nach der Rückkehr der angestammten Familie vor das Profosengericht gestellt? Man hätte ihn ja nicht aufs Schafott bringen müssen, um jeden Preis, man hätte Milde walten lassen können, gut, aber eine anständige Verbannung auf Lebensdauer war doch das mindeste, was man verlangen durfte. Man hätte schließlich ein Exempel statuieren sollen! Überdies war dieser Mensch noch dazu ein Atheist, wie sich das ja bei seinesgleichen von selbst versteht.
Gänsegeschnatter über einen Geier.
War
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