Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
ist nahe.«
Er ahnte nicht, daß er Schritt für Schritt die inneren Verschanzungen des Bischofs gestürmt hatte. Eine nur blieb ihm noch, ein letzter Hort des Widerstandes.
»Der Fortschritt muß an Gott glauben«, sagte er. »Das Gute verträgt keine unfrommen Diener. Der Atheist ist ein schlechter Führer des Menschengeschlechts.«
Der alte Volksvertreter antwortete nicht. Ein Zittern durchschauerte ihn. Er blickte zum Himmel auf, und eine Träne trat in sein Auge. Fast stammelnd, den Blick in die Tiefe des Himmels gesenkt, flüsterte er:
»O du, Ideal, nur du bist!«
Der Bischof empfand eine unaussprechliche Erschütterung.
Nach einem Schweigen wies der Greis zum Himmel hinauf und sagte:
»Es gibt eine Unendlichkeit dort droben. Wenn sie von keinem Ich belebt wäre, wäre das Ich ihre Begrenzung; sie wäre nicht mehr unendlich; mit anderen Worten, sie wäre nicht mehr. Aber sie ist. Darum gibt es ein Ich in ihr, das Ich der Unendlichkeit – Gott!«
Der Sterbende hatte diese letzten Worte mit erhobener Stimme gesprochen, in ekstatischer Verzückung, als ob er jenes höhere Wesen erschaue. Als er ausgesprochen hatte, schlossen sich seine Augen. Die Anstrengung hatte ihn erschöpft. Offenbar hatte er in einer Minute die Kraft verbraucht, die ihm verblieben war. Seine Worte hatten ihn jenem genähert, der im Tode ist. Der letzte Augenblick war nahe.
Der Bischof begriff; als Priester war er hierhergekommen, war von kalter Ablehnung stufenweise bis zu höchster Rührung gelangt; jetzt nahm er diese zerfurchte, eisige Hand und beugte sich über den Sterbenden.
»Dies ist die Stunde Gottes. Wäre es nicht beklagenswert, wenn wir einander vergeblich begegnet wären?«
Der Revolutionär blickte auf. Ernst, den Mißmut überschattete, lag auf seiner Stirn.
»Herr Bischof«, sagte er mit einer Langsamkeit, die vielleicht mehr seiner Würde als der Schwäche seiner Todesstunde entsprang, »mein ganzes Leben war dem Studium und der Betrachtung gewidmet. Sechzig Jahre war ich alt, als mein Vaterland mich rief und befahl, daß ich mich in seine Angelegenheiten mische. Ich habe gehorcht. Ich sah Mißbräuche und bekämpfte sie. Ich sah Tyrannei, und ich habe sie niedergerungen. Für Recht und Gesittung habe ich gekämpft. Unser Land war vom Feinde bedrückt, ich habe es verteidigt. Frankreich war bedroht, ich habe mein Leben eingesetzt. Ich war nicht reich, und ich bin jetzt arm. Ich war einer der Führer des Staates, die Schatzkammern waren gefüllt mit Gold und Silber, so daß wir die Mauern stützen mußten, aber ich aß zu Mittag für zweiundzwanzig Sous in der Rue de l’Arbre-Sec. Ich habe den Unglücklichen geholfen, habe die Bedrückten aufgerichtet. Wenn ich Altartücher zerriß – und das habe ich getan –, so geschah es, um die Wunde des Vaterlandes zu verbinden. Sooft das Menschengeschlechtdem Licht entgegenstrebte, war ich auf seiner Seite. Wenn der Fortschritt erbarmungslos war, stellte ich mich ihm entgegen. Es geschah, daß ich meine eigenen Feinde, Leute von euch, beschützte. In Peteghem, in Flandern, dort, wo die Könige aus dem Merowingergeschlecht den Winterpalast hatten, gibt es ein Kloster der Urbanistinnen, die Abtei der Ste. Claire en Beaulieu – die habe ich 1793 gerettet. Ich tat meine Pflicht, so gut ich konnte. Man hat mich verjagt, gehetzt, verfolgt, böser Dinge bezichtigt, verleumdet, verflucht, proskribiert. Seit vielen Jahren schon sehe ich, ein Greis mit weißen Haaren, wie viele Leute auf mich verächtlich herabblicken, der armen, unwissenden Menge bin ich ein Gezeichneter; gut, ich nehme mein Schicksal an, ich hasse niemand. Aber jetzt zähle ich sechsundachtzig Jahre und werde sterben. Was wollen Sie noch von mir?«
»Ihren Segen«, sagte der Bischof. Er kniete nieder.
Als er aufblickte, hatte das Antlitz des Konventsmitglieds einen erhabenen Ausdruck angenommen. Der Greis war tot.
Eine Einschränkung
Es wäre verfehlt, wollte man aus dem Gesagten schließen, Monsignore Bienvenu sei ein »philosophisch veranlagter Geistlicher« oder ein »patriotischer Pfarrer« gewesen. Seine Begegnung mit dem Konventsmitglied G. hatte ihn in Staunen versetzt und noch weicher gestimmt als je. Das war alles.
Obwohl Monsignore Bienvenu kein Mann der Politik war, muß vielleicht an dieser Stelle doch in aller Kürze gesagt werden, wie er zu den Ereignissen seiner Zeit Stellung nahm.
Gehen wir einige Jahre zurück.
Kurz nach seiner Ernennung zum Bischof hatte der Kaiser Herrn Myriel zum
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