Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
lang reglos im Schatten irgendeines Leonidas oder Spartacus, ein Buch in Händen, über dessen Rand seine Augen, sanft gehoben, nach dem schönen Mädchen ausschauten; und auch sie gönnte ihm ein ungefähres, reizendes Lächeln. Während sie aufs natürlichste und harmloseste mit dem Weißhaarigen plauderte, gab ihr zugleich jungfräulicher und doch leidenschaftlicher Blick Marius Anlaß zu endloser Träumerei. Das war die uralte und ewig neue Technik, die Eva am ersten Tage ersann und die noch heute jeder Frau am Tage ihrer Geburt vertraut ist. Ihr Mund antwortet dem einen, ihr Blick dem anderen.
Doch hatte es den Anschein, als ob Herr Leblanc schließlich etwas gemerkt hätte, denn oft, wenn Marius kam, stand er auf und ging spazieren. Auch hatte er seinen alten Platz aufgegeben und am anderen Ende der Allee die Bank neben dem Gladiator gewählt, als ob er in Erfahrung bringen wolle, ob Marius ihm dahin folgen werde. Marius begriff nicht und beging diesen Fehler. Jetzt begannder Vater unpünktlich zu werden und brachte seine Tochter nicht mehr täglich hin. Manchmal kam er allein. Dann blieb Marius nicht. Auch das war ein Fehler.
Und Marius beachtete diese Symptome nicht. Einem schicksalhaften und naturgemäßen Fortschritt entsprechend, war er aus dem Stadium der Schüchternheit in das der Blindheit übergegangen. Seine Liebe wuchs. Nächtelang träumte er vor sich hin. Und endlich geschah ihm ein unerwartetes Glück, Öl auf sein Feuer, um ihn vollends zu verblenden. Eines Abends in der Dunkelheit fand er auf der Bank, von der Herr Leblanc und seine Tochter eben aufgestanden waren, ein Taschentuch, ein ganz gewöhnliches, unbordiertes Taschentuch, aber weiß und zart; ihm wenigstens schien es, als ob es einen herrlichen Duft ausströme. Begeistert steckte er es ein.
Dieses Taschentuch zeigte die Buchstaben U. F. Marius wußte nichts über dieses schöne Mädchen, weder ihren Namen noch ihre Wohnung; diese beiden Initialen waren das erste, was er von ihr erfuhr, wunderbare Initialen, auf die er allsogleich ein ganzes Gerüst der Vermutungen aufzurichten begann. U war offenbar der Vorname. Ursule, dachte er, wie köstlich ist dieser Name! Er küßte das Taschentuch, atmete seinen Duft ein und trug es an seinem Herzen, auf bloßer Brust, um es nachts an seine Lippen zu drücken.
Ihre ganze Seele duftet mir aus diesem Tuch entgegen, dachte er.
Es gehörte dem alten Herrn, dem es ganz einfach aus der Tasche gefallen war.
In den nächstfolgenden Tagen erschien Marius im Luxembourg nur mit jenem Taschentuch, das er immer wieder küßte und ans Herz drückte. Das schöne Kind begriff nicht und gab es ihm durch fast unmerkliche Zeichen zu verstehen.
Wie süß ist sie in ihrer Schamhaftigkeit, dachte er.
Mondfinsternis
Der Leser hat gesehen, wie Marius entdeckte oder entdeckt zu haben glaubte, daß sie Ursule hieß.
Liebende werden nie satt. Ihren Namen zu wissen, schien sehr wichtig, aber es war doch recht wenig. In drei oder vier Wochen hatte er das Glück aufgezehrt und wollte ein neues. Jetzt wollte er auch wissen, wo sie wohnte.
Schon hatte er einen Fehler begangen, als er in den Hinterhalt fiel und den beiden zu dem Gladiator folgte. Dann beging er einen zweiten: er blieb nicht im Luxembourg, wenn Herr Leblanc allein kam. Und jetzt den dritten, den ungeheuerlichsten: er ging Ursule nach.
Sie wohnte in der Rue de l’Ouest, in einer verkehrsarmen Gegend, in einem neuen, dreistöckigen, recht einfachen Hause.
Von jetzt an brauchte sich Marius nicht mehr darauf zu beschränken, ihr im Luxembourg zu begegnen, er konnte ihr auch nachgehen.
Er wurde immer hungriger. Er wußte, wie sie hieß, den Vornamen wenigstens, er wollte aber auch wissen, wer sie war.
Eines Abends, nachdem er ihr bis zu ihrem Hause gefolgt war, trat er ein und fragte tapfer den Portier:
»War das der Herr aus dem ersten Stock, der eben nach Hause kam?«
»Nein, der Herr aus dem dritten.«
Wieder ein Schritt vorwärts. Marius wurde kühner.
»Vorn heraus?«
»Das Haus hat keine Hinterfront.«
»Was ist der Herr?«
»Ein Rentner. Ein sehr guter Mensch, denn er hilft den Armen, obwohl er selbst nicht reich ist.«
»Wie heißt der Herr?«
Der Portier blickte auf.
»Sind Sie ein Spitzel?«
Marius zog verblüfft ab, war aber doch entzückt. Er hatte Fortschritte gemacht.
Gut, dachte er, sie heißt Ursule, ist die Tochter eines Rentners und wohnt hier, Rue de l’Ouest, im dritten Stock.
Am nächsten Tag kamen Herr Leblanc und
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