Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
entgangen, daß der Wirt der Croix-de-Colbas auf der Schwelle erschienen war, im Kreise aller Gäste seiner Herberge und vieler Leute von der Straße, und daß er mit dem Finger auf ihn zeigte; aus den mißtrauischen und erschreckten Blicken der Leute hätte er wohl erraten können, daß seine Ankunft in kurzer Zeit ein Ereignis der Stadt sein würde.
Aber von alledem merkte er nichts. Leute, die bedrückt sind, sehen sich nicht viel um. Sie wissen nur zu gut, daß ein schlimmes Schicksal ihnen folgt.
Einige Zeit ging er weiter, durchschritt Straßen, die er nicht kannte, achtete seiner Müdigkeit nicht, wie das in großer Trauer wohl geschehen mag. Plötzlich fühlte er lebhaften Hunger. Die Nacht brach herein. Er hielt Umschau, ob er nicht irgendwo ein Quartier für die Nacht fände.
Aus der guten Herberge hatte man ihn fortgeschickt, sie war ihm verschlossen; also suchte er ein bescheidenes Quartier, irgendeinen notdürftigen Unterschlupf.
In diesem Augenblick flammte am Ende der Straße ein Licht auf, ein Kiefernzweig, der an einer Eisenstange hing, zeichnete sich auf dem fahlen Himmel der Dämmerung ab. Dahin wandte er seine Schritte. Es war in der Tat eine Schenke, eine kleine Gastwirtschaft in der Rue de Chaffaut. Der Reisende blieb einen Augenblick stehen und sah durch das Fenster in ein niederes Gemach, das von einer kleinen Lampe auf dem Tisch und von einem großen Feuer im Kamin erhellt wurde. Einige Männer saßen auf den Bänken und tranken. Der Wirt wärmte sich am Feuer. Im Kamin hing ein Eisenkessel an einer Querstange. Man betritt diese Schenke, in der man auch Quartier finden kann, von der Straße aus oder durch eine andere Tür aus einem Hof, in dem Dünger liegt.
Der Reisende wollte nicht die Straßenpforte wählen.
Er schlich in den Hof, zögerte einen Augenblick, legte dann scheu die Hand auf die Klinke und öffnete.
»Wer ist da?« fragte der Wirt.
»Jemand, der zu essen und zu schlafen begehrt.«
»Gut. Hier gibt’s zu essen, und hier kann man schlafen.«
Der Fremde trat ein. Die Trinker wandten sich nach ihm um. Die Lampe beleuchtete ihn von der einen Seite, das Kaminfeuer von der anderen. Man besah sich ihn, während er seinen Tornister abnahm.
»Hier ist Feuer«, sagte der Wirt. »Das Abendbrot kocht im Topf. Wärmen Sie sich hier, Kamerad.«
Der Fremde setzte sich an den Kamin und streckte seine müden Beine aus. Ein wohliger Duft aus dem Kessel stieg ihm in die Nase. Sein Gesicht, soweit es unter der Kappe erkennbar war, nahm einen Ausdruck von Behagen an, hinter dem jedoch die scharfe Schrift des Elends nicht unlesbar wurde.
Es war übrigens ein Gesicht, das Festigkeit, Energie und Trauer erkennen ließ. Eine seltsame Mischung aus Demut und Strenge. Die Augen leuchteten unter den Brauen wie Feuer im Gestrüpp.
Unter den Gästen befand sich ein Fischhändler, der eben durch die Straßentür eingetreten war, nachdem er sein Pferd bei Labarre im Stall untergebracht hatte. Dieser Mann winkte den Wirt zu sich. Die beiden wechselten flüsternd einige Worte, während der Fremde versonnen am Feuer saß.
Jetzt trat der Wirt wieder an den Kamin, legte dem Fremden brüsk die Hand auf die Schulter und sagte:
»Mach, daß du fortkommst!«
Der Fremde wandte sich um und fragte ruhig:
»Ach, Sie wissen …?«
»Ja!«
»Man hat mich aus der anderen Herberge fortgejagt.«
»Und man jagt dich auch aus dieser fort.«
»Und wohin soll ich gehen?«
»Sonstwohin.«
Der Fremde nahm seinen Stock und seinen Tornister und ging.
Als er auf die Straße trat, wurde er von einigen Kindern empfangen, die ihm von der Croix-de-Colbas nachgelaufen waren und Steine nach ihm warfen. Er wandte sich um und drohte ihnen mit dem Stock. Wie aufgescheuchte Vögel stoben sie auseinander.
Er kam an dem Gefängnis vorbei. An der Tür hing eine eiserne Kette, an der die Glocke befestigt war. Er schellte.
Als der Schließer öffnete, bat er mit demütig gezogener Kappe:
»Herr Schließer, wollen Sie mir nicht öffnen und für diese Nacht Unterkunft geben?«
»Ein Gefängnis ist keine Herberge«, antwortete die Stimme. »Machen Sie, daß Sie arretiert werden, dann lasse ich Sie herein.«
Das Schiebefenster wurde geschlossen.
Es wurde dunkel. Kalter Gebirgswind wehte. Im Schein des verlöschenden Tages bemerkte der Fremde in einem der Gärten, die an die Straße stoßen, eine Hütte, die mit Rasenstücken belegt war. Kurz entschlossen sprang er über den Zaun und drang in den Garten ein. Er näherte sich
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