Sind wir nun gluecklich
Vorwort – Was ist Glück?
Wenn ich unter Menschen bin, schaue ich ihnen gewöhnlich aufs Handgelenk, als verberge sich dort das innerste Geheimnis des modernen China, etwas, worüber zwar nicht offiziell gesprochen wird, was sich aber zunehmend weiter verbreitet: Immer mehr Menschen, Frauen wie Männer, tragen ein Talisman-Armband, einige davon wohl einfach nur zur Zierde, die Mehrzahl allerdings trägt es als Glücksbringer oder zur eigenen Beruhigung. Dieses Armband, irgendetwas zwischen Glaubensbekenntnis und Schmuckstück, ist meist weder das eine noch das andere.
Was bedeutet solch ein Amulett, worin genau besteht seine Funktion für den Träger oder die Trägerin? Oder, anders gefragt, für welche inneren Ängste und Unsicherheiten steht es bei den Einzelnen?
Trägt so ein Armband zu unserer Beruhigung bei? Was sagt dieses scheinbar rein dekorative Objekt über unsere Psyche aus? Und warum macht sich eigentlich niemand über dieses merkwürdige Phänomen Gedanken?
Vielleicht schweigt man sich darüber aus, weil man ratlos ist. Handelt es sich dabei um ein »Zurück zur Tradition« oder um einen Neuanfang? Ob es auf religiöse Rituale zurückgeht, die wir unbewusst verinnerlicht haben, oder einfach ein aus Verunsicherung geborener Hilferuf ist?
Am letzten Tag des Jahres 2006 besuchte ich Ji Xianlin im städtischen Krankenhaus Nummer 301. Ich kam dort vormittags an und fand den alten Herrn Ji, der für gewöhnlich sehr früh aufsteht, längst am Tisch vor. Der Linguist und Historiker war in seine Arbeit vertieft. Er saß an den Korrekturen seines bereits vor einer ganzen Weile veröffentlichten Werks Fünfzehn Abhandlungen zum Buddhismus . Er sagte: »Ich glaube, das sind Fragen, mit denen ich mich ganz gut auskenne.«
Und damit hatten wir unser Gesprächsthema. Das hatte ich nicht erwartet, und es ist auch kein Thema, das man mit einem Satz abhandelt, es zog sich durch unsere gesamte Konversation.
»Sind Sie Buddhist?«, fragte ich.
»Wenn ich ja sage, trifft es das vielleicht nicht ganz; aber ich muss gestehen, dass ich ein sehr enges Verhältnis zum Buddhismus habe. Das geht wahrscheinlich vielen von uns Chinesen so«, antwortete mir der alte Ji.
Ich wurde neugierig und fragte weiter: »Wo finden die Chinesen Trost für ihre Seelen inmitten dieses rapiden ökonomischen Wachstums, heute und in Zukunft?«
Herr Ji ging etwas mehr ins Detail und gab mir ein Beispiel. Einmal habe er Besuch von einem hohen Kader bekommen, und auch dabei war es um Bewusstseinsfragen gegangen. Der Besucher fragte ihn: »Was wird unter den Menschen zuerst aussterben, die Doktrinen oder die Religionen?«
Ji antwortete dem hohen Kader, ohne zu zögern: Einmal angenommen, dass die Leute es nicht schaffen werden, die Angst vor dem Tod zu überwinden, dann werden es wohl zuerst die Doktrinen sein, die noch einen Tag vor der Religion verschwinden.
Ich war beeindruckt von der Weisheit, dem Mut und dem Glauben, die aus dieser scheinbar prosaischen Antwort sprachen. Natürlich ließ die Aussage »einen Tag vorher« viel Spielraum für Interpretationen.
Es ist nun schon eine Weile her, dass ich Ji im Gespräch gegenübersaß. Es waren nur ein paar Stunden. Das Licht der Wintersonne auf dem Gesicht des alten Mannes erfüllte mich und alle anderen Personen im Raum mit seiner Wärme. Fröhlich und friedlich wirkte Ji an jenem Tag. Ich und die Leute ringsum waren es ebenfalls.
Neulich blätterte ich durch ein Buch über den Philosophen Liang Shuming mit dem Titel Wie kann diese Welt eine bessere werden? . Als ich auf das Nachwort stieß, einen Auszug aus den Schriften von Liang Shuming selbst, klopfte mir bei der Lektüre unwillkürlich das Herz schneller.
Der weise Liang war der Meinung, die Menschheit stehe drei großen Fragestellungen gegenüber, und zwar genau in dieser Reihenfolge: Zuerst gelte es, die Probleme zwischen den Menschen und den Dingen zu lösen, dann die Probleme der Menschen untereinander und schließlich die Probleme zwischen dem Menschen und seinem inneren Selbst.
Genau so ist es. Machen wir denn von den frühesten Studien der Kindheit an bis zum hohen Alter etwas anderes, als die Probleme zwischen uns Menschen, die wir unseren Platz in der Gesellschaft gefunden haben, und den Dingen ringsum zu lösen? Ohne Stundenpläne, Wissen, Arbeit, Geld, Häuser, Autos und dergleichen mehr, wie könnte man sich da einen erwachsenen Menschen nennen? Und wer wird sich nicht ernsthaft und mit aller Sorgfalt mit seiner Rolle
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