Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
gelaufen. Als ich heute abend hier ankam, war ich in einer Herberge, aber man hat mich weggejagt, weil ich den gelben Paß habe; den mußte ich im Stadthaus vorzeigen. So ist die Vorschrift. Dann war ich in einer anderen Herberge. Da haben sie gesagt: pack dich! Beim einen so, beim anderen so, keiner will mich. Ich war vor dem Gefängnis, der Schließer wollte mich nicht hereinlassen. Auch in einer Hundehütte. Der Hund hat mich gebissen und verscheucht, als wäre er ein Mensch. Als ob er wüßte, wer ich bin. Hier auf dem Platz wollte ich mich auf eine Steinbank legen, da kam eine Frau, zeigte mir Ihr Haus und sagte: Klopfen Sie da an. Ich habe es getan. Was ist das für ein Haus hier? Eine Herberge? Ich habe Geld, hundertneun Franken und fünfzehn Sous. Die habe ich in neunzehn Jahren, im Bagno, verdient. Ich will bezahlen. Was liegt mir daran, ich habe ja Geld. Sehr müde bin ich, zwölf Meilen zu Fuß –! Und sehr hungrig. Soll ich bleiben?«
»Noch ein Gedeck, Frau Magloire!« sagte der Bischof.
Der Mann trat drei Schritte vor, bis an die Lampe heran, die auf dem Tisch stand.
»Hören Sie«, sagte er, »Sie haben mich wohl nicht richtig verstanden. Ich bin ein Galeerensträfling. Zwangsarbeit. Ich kommevon den Galeeren.« Er zog ein gelbes Blatt Papier aus der Tasche. »Das da ist mein Paß. Ein gelber, wie Sie sehen. Das dient dazu, daß ich überall fortgejagt werde. Wollen Sie ihn lesen? Ich kann lesen, Herr, ich habe es im Bagno gelernt. Das ist eine feine Schule für die, die lernen wollen. Sehen Sie doch, was da steht: Jean Valjean, entlassener Sträfling, geboren zu … Nun, das ist ja egal, Sie kümmert das nicht … Also: war neunzehn Jahre im Bagno. Fünf Jahre wegen Einbruchsdiebstahl, vierzehn Jahre wegen versuchten Ausbruchs. Sehr gefährlich! Da steht es. Jedermann wirft mich heraus. Wollen Sie mich aufnehmen? Ist das eine Herberge? Wollen Sie mir zu essen und Unterkunft geben? Haben Sie einen Stall?«
»Frau Magloire«, sagte der Bischof, »überziehen Sie das Bett im Alkoven mit neuen Laken.«
Frau Magloire ging hinaus, um zu tun, was ihr befohlen worden war.
Der Bischof wandte sich an den Fremden:
»Setzen Sie sich, mein Herr, und wärmen Sie sich. Wir werden gleich essen, und man wird inzwischen Ihr Bett bereiten.«
Jetzt begriff der Mann erst ganz. Sein Gesicht, das bisher hart und finster gewesen war, verriet Verblüffung, Zweifel und Freude. Er stammelte wie ein Irrer.
»Wahrhaftig, Sie wollen mich hierbehalten? Sie werfen mich nicht heraus? Mich, einen Sträfling, nennen Sie Herr? Sie duzen mich nicht? Ich war fest überzeugt, daß Sie mich fortschicken würden. Darum habe ich gleich gesagt, wer ich bin. Das war eine gute Frau, die mich hierhergeschickt hat. Und essen werde ich auch! Und ein Bett haben mit Matratze und Laken! Ein Bett … neunzehn Jahre lang habe ich nicht in einem Bett gelegen! Sie sind gute Leute. Ich habe ja Geld, ich werde Sie schon bezahlen. Verzeihung, Herr Wirt, wie heißen Sie? Ich werde alles bezahlen, soviel es ausmacht. Sie sind doch Wirt, nicht wahr?«
»Ich bin ein Priester aus diesem Ort«, sagte der Bischof.
»Ein Priester … ein wackerer Priester! Dann wollen Sie wohl gar kein Geld? Sie sind Pfarrer? Pfarrer von der großen Kirche da? Ach, wahrhaftig, ich bin blöde, habe gar nicht bemerkt, daß Sie das Käppchen tragen.«
Inzwischen hatte er seinen Tornister abgelegt, den Stock in die Ecke gestellt, seinen Paß eingesteckt und sich gesetzt. Fräulein Baptistines Blick ruhte sanft auf ihm. Er fuhr fort:
»Sie sind menschlich, Herr Pfarrer, Sie verachten mich nicht. Das tut wohl – einmal ein guter Priester. Sie brauchen wohl auch kein Geld?«
»Nein«, erwiderte der Bischof, »behalten Sie Ihr Geld. Wieviel haben Sie übrigens? Sagten Sie nicht, es wären hundertneun Franken?«
»Und fünfzehn Sous.«
»Hundertneun Franken und fünfzehn Sous! Wie lange brauchten Sie, um das zu verdienen?«
»Neunzehn Jahre.«
Der Bischof seufzte tief.
»Ich habe noch alles«, fuhr der Fremde fort. »Seit vier Tagen habe ich nur fünfundzwanzig Sous ausgegeben, und die habe ich in Grasse verdient, beim Wagenladen. Da Sie Abbé sind, muß ich Ihnen sagen, daß wir im Bagno einen Almosenier hatten. Auch einen Bischof sah ich eines Tages, so einen, der Monsignore angeredet wird. Das war der Bischof von Ste. Marie-Majore in Marseille. Das ist der Pfarrer, dem die andern Pfarrer gehorchen müssen. Sie müssen mich entschuldigen, ich sage das nicht geschickt,
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